Rede aus Anlass der Präsentation des von mir herausgegeben Buches Kurt Bayer: Wirtschaftspolitik. Kunst mit Wissen (Marburg: Metropolis 2024) am 27.2.2025 im Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche Wien
Zugleich Vortrag und Diskussion "Gute" Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund veränderter Lage, mit Sigrid Stagl (Wirtschaftsuniversität Wien, Wissenschaftlerin des Jahres 2024), Helene Schuberth (Österreichischer Gewerkschaftsbund) und Thomas Wieser
Liebes Publikum, liebe Personen am Podium, lieber Kurt.
Ich will drei Themen ansprechen:
- Was sind die Hintergründe für dieses Buch, für das ich als Herausgeber verantwortlich bin?
- Warum habe ich das gemacht?
- Und drittens: Warum habe ich das wirklich gemacht?
Die ersten zwei Punkte sind schnell gesagt. Für den dritten Punkt will ich mir etwas mehr Zeit nehmen.
1. Die Hintergründe: Ich kenne Kurt seit vielen Jahren – nicht intensiv, aber etwas. Wir hatten die letzten Jahre Kontakt, auch zu inhaltlichen Fragen, ich habe auch seinen Blog regelmäßig gelesen. Kurt hat sich auch vor zwei Jahren einmal von mir zur Wirtschaftspolitik Großbritanniens für eine Sendung, die ich bei dem lokalen Sender DorfTV in Linz betreibe, interviewen lassen. (Link) Im Frühsommer vorigen Jahres haben wir uns bei einer Veranstaltung (bei der es um eine Belebung der Sozialdemokratie ging) eher zufällig getroffen. Ich habe ihm von meinen Buchprojekten erzählt und ihn gefragt, wann es von ihm ein Buch über seine Ansichten und seine Reformpläne geben wird. Kurt hat gesagt, das würde er nicht machen, was für mich insofern nicht nachvollziehbar war, weil ich ihn als Verfasser inspirierender und klarer Analysen in Schriftform kenne. Aus diesen Überlegungen hat sich der Gedanke zu einem Buch über seine Blogbeiträge entwickelt. Ich konnte den Verlag Metropolis, mit dem ich seit über 15 Jahren gut zusammenarbeite, dafür gewinnen, für einen ihnen unbekannten Autor ein Buch zu machen. Thomas Wieser hat pünktlich ein Vorwort geschrieben, vielen Dank – ich empfehle allen Anwesenden, es zu lesen – und die Künstlerin Rosemarie Hebenstreit hat die Scherenschnitte beigestellt, herzlichen Dank. Bereits im Herbst gelang es, mit viel Fleiß das Buchprojekt zügig zu einem Abschluss zu bringen.
2. Warum ich das gemacht habe, habe ich in meiner kurzen Vorbemerkung im Buch angedeutet. Hier in Kürze der wichtigste Punkt. Kurt Bayer weist eine Gemeinsamkeit mit den Personen auf, die am Podium sitzen. Sie teilen die Überzeugung, dass das ökonomische Wissen immer auch ein Wissen über konkrete Institutionen und ihre Abläufe sein muss. Diese Dimension wird von Kurt mit großer Gelehrsamkeit und im Detail vermittelt. Hier können wir von Kurt viel lernen: zum Beispiel von seinen regelmäßigen Vorschlägen zur Reform von europäischen Institutionen oder des Finanzsystems. Kurt grenzt sich dabei bewusst von „institutionenbefreiten“ neoklassischen Gleichgewichtsmechaniken und von neoliberalen Marktideologien ab, die mit ihrem nicht definierten Ordnungsbegriff jedes institutionelle Detail ausblenden und ausblenden müssen. Diese Sichtweisen, gegen die sich Kurt im Buch immer wieder wendet, haben ihre Folgen. Aktuell können wir beobachten, wie wenig Ökonom:Innen es thematisieren, wenn die Regierung Trump die Institutionen des Staates besetzt und eruptiv verändert, sodass die Demokratie insgesamt bedroht ist. Denn Ökonom:innen, die kaum Kenntnisse über Institutionen besitzen, erkennen ihre Zerstörung nicht. Das gilt für alle großen Krisen unserer Zeit, die Kurt mit anderen kritischen Sozialwissenschaftler:innen laufend thematisiert: Die theoretische Brille verhindert das Erkennen der Welt, wie sie nun mal ist.
3. Nun zum dritten Punkt: Warum habe ich dieses Projekt wirklich gemacht? Im Herbst hat mich meine Frau während vieler Arbeiten für das Buch einmal gefragt, warum ich mir das überhaupt antue und ich habe, im Scherz und um keine Debatten führen zu müssen, gesagt: „Das weiss ich gar nicht“. Natürlich hätte ich es sagen können, warum ich das tue, aber wie jeder Scherz hat er einen wahren Kern, der mir in der Vorbereitung auf den heutigen Tag bewusst geworden ist. Es handelt sich um eine seltene Fähigkeit, die Kurt verkörpert. Was jetzt kommt, ist eine Laudatio auf Kurt auf einer tieferen Ebene, als das eben Gesagte. Ich weiß, dass Kurt es ablehnen würde, über sich selbst in der Öffentlichkeit derart lobend zu reden. Kurt ist geerdet und bescheiden. Das zeichnet ihn aus und macht ihn für viele sympathisch.
Kurt verkörpert eine Tugend bzw. eine Fähigkeit, die mit dem altmodischen Begriff „politische Urteilskraft“ benannt werden kann. Genau das fehlt vielen gegenwärtigen Debatten: wissenschaftsintern, der politischen Klasse (vereinfacht gesprochen) fast zur Gänze, ebenso der Öffentlichkeit und den Medien, die ja idealiter die Politik kontrollieren sollten. Mit fehlender politischer Urteilskraft taumelt eine ganze Gesellschaft scheinbar hilflos immer größeren Krisen entgegen.
Der Begriff „Politische Urteilskraft“ stammt von Hannah Arendt. Sie hat dabei Überlegungen von Immanuel Kant weiterentwickelt. Kant hat bekanntlich in seinem dritten Hauptwerk (Kritik der Urteilskraft) versucht, eine Synthese zwischen der Welt der geordneten Natur (dem Gegenstand der theoretischen Vernunft) und der Welt der Freiheit, des freien Willens (dem Gegenstand der praktischen Vernunft) zu formulieren. Das ermöglicht, wie Kant glaubte an vielen Beispielen zeigen zu können, ein neues Vermögen, das er„reflektierende Urteilskraft“ nannte. Diese Art von Urteilskraft, ist nicht nur die Urteilskraft, die sich jede und jeder aneignet, die oder der lange eine bestimmte Tätigkeit ausübt. Wenn wir lange in einem Feld arbeiten, erlangen wir automatisch fachliche Expertise und Berufserfahrung, d.h. wir erlangen Urteilskraft. Reflektierende Urteilskraft meint mehr: Sie schafft Verbindungen zwischen verschiedenen, scheinbar disparaten Feldern – keine trivialen oder unkritischen (wie der Unsinn „Alles hängt mit allem zusammen“), sondern begründbare und nachvollziehbare Zusammenhänge. Genau das zeichnet Kurt Bayer aus, an manchen Stellen seines Buches spricht er es ein wenig an.
Hannah Arendt hat die reflexive Urteilskraft auf politische Prozesse bezogen und spricht von „Politischer Urteilskraft“. Diese ist nach der deutschen Philosophin Andrea Merlen Esser durch drei Maxime gekennzeichnet – alle drei finden wir bei Kurt Bayer.
[Esser, Andrea Marlen: "Politische Urteilskraft – Zur Aktualität eines traditionellen Begriffs", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65 (2017), Nr. 6, S. 975–998.]
1. Die erste Maxime lautet „vorurteilsfrei denken“. Das bedeutet nicht, keine Meinungen, Grundhaltungen, Stereotype usw. zu haben, das ist unmöglich. Das bedeutet aber, über die Fähigkeit zu verfügen, sich selbst immer wieder in Frage zu stellen, die eigenen Meinungen begründet zu revidieren. Wenn Kurt das in seinem Leben mehrmals gemacht hat, wie Thomas Wieser im Vorwort erwähnt, dann spricht das für ihn. Denn das erfordert die Fähigkeit, über sich selbst abstrakt denken und eine Pluralität von Meinungen aushalten zu können, Kurt spricht das im Buch an. Es bedeutet, Ambiguitätstoleranz und Ambivalenztoleranz leben zu können – zwei Haltungen, die Rechtsextreme wütend bekämpfen. Es bedeutet, Irritationen zuzulassen und gleichzeitig eine reflexive Distanz zum „gesellschaftlich Normalen“ eingehen zu können – genau das zeichnet Kurt aus.
2. Die zweite Maxime lautet „erweiterte Denkungsart“. Sie meint, zu anderen Meinungen nicht nur einem moralischen Standpunkt geltend zu machen (das ist die Crux vieler Liberaler und sozial und ökologisch Bewegter zu den rechten Strömungen), sondern eine Position „reflektierender Involviertheit“ zu beziehen. Sie ist der vorherrschenden Wir-Diktion entgegen gerichtet: den vielen „Wir-Aussagen“, die „Wir“ (ein schönes Wortspiel) im neoliberalen Diskurs dauernd hören: Was „Wir“ zu tun hätten, z.B. müssen „Wir“ jetzt sparen. Reflektierende Involviertheit bedeutet demgegenüber die konkreten Lebensumstände und ihrer Urteile in das eigene Urteil einzubeziehen. Sie verlangt eine produktive Vorstellungskraft, z.B. darüber, was ein „gutes Leben“ heute auszeichnet – Anregungen finden Sie im Buch.
Didier Eribon hat in seinem Buch Rückkehr nach Reims, das vermutlich viele kennen, einen Versuch unternommen, sich mit seinen Wurzeln seiner Kindheit und mit den Lebenswelten, die ihm als Intellektueller fremd geworden sind, zu konfrontieren und und hat daraus eine Kritik einer sich als links verstehenden politischen Klasse formuliert. Er beschreibt in seinem Buch einen „epistemologischen Bruch“, die seine „spontanen Denk- und Selbstwahrnehmungsweisen“ erschüttert hätten. Kurt Bayer versucht seinen Leser:innen diese Erschütterungen zu vermitteln. Er schreibt an vielen Stellen vom täglichen Leben, von Lebensstilen, von Lebensumständen und von Lebensqualität - Aspekte, die der aktuellen Politik im hohen Maße abgehen. Weitere Bereiche gesellschaftlichen Leidens werden öffentlich nicht thematisiert, die Rechten beuten das geschickt aus.
[Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims, Berlin: Suhrkamp 13. Aufl. 2017]
3. Ich komme zur dritten und letzten Maxime: die Maxime eines „konsequenten Denkens“. Sie will die ersten beiden Maximen kohärent integrieren. Das beinhaltet auch eine integrierte Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Theorie und Praxis werden oft als Gegensatz gesehen: die wissenschaftliche Arbeit und das Theoretisieren auf der einen, der praktische Aktivismus auf der anderen Seite. Wer theoretische Kritik anbringt, dem wird (wie ich in vielen Vorträgen erfahren habe), oft erwidert: Alles schön und gut, was Sie da vorbringen, aber was sind Ihre Lösungsvorschläge und wie wollen Sie das konkret umsetzen, am besten sogleich? Und Personen auf der praktischen Seite können sich durch eine weitgehende Kritik (z.B. zu der berechtigten Frage, ob die ökologischen Krisen innerhalb des Kapitalismus überhaupt lösbar sind) entwertet fühlen: Was ist der Wert ihrer kleinen Schritte angesichts der großen Theorien? Das Resultat kann Resignation und Verzweiflung auf beiden Seiten sein: ich kenne das auch von Freund:innen auch aus letzter Zeit. Hier verstärken sich theoretische und praktische Inseln in einem isolierten Dasein.
Diese falsche Sicht teilt Kurt Bayer nicht. Seine Texte wollen Verbindungen schaffen. Zum einen könnte man sagen: Theorie versus Praxis ist eine ungenügende Dichotomie. Analytische und theoretische Texte zu produzieren, ist eine Praxis. Sie ist auch, wie Kurt es formuliert, eine „Kunst“, die eingeübt und praktiziert werden muss. Zum anderen sind praktische Aktivitäten ohne theoretisches Denken gar nicht möglich, auch wenn es nur implizit bleibt. Aber wichtiger scheint folgende Bemerkung: Die theoretischen Einsichten von Kurt Bayer sind kleine, aber wirksame Bestandteile einer durch sie hervorgebrachten gemeinsamen Praxis. Die auf Grundlage solcher Schritte erreichten Verhältnisse können im Vergleich zu vorigen Verhältnissen (nicht im Vergleich zu abstrakten Idealen) als „besser“ bewertet werden.
Das ist eine bescheidenere und zugleich flexiblere Beurteilung. Sie beschreiben das, was ein Außenseiter wie Kurt in seinem Wirken für dieses Land leistet. Eine „Kunst des Möglichen, die das Machbare im Auge behält“, so formuliert er es. Denn das Feld des Politischen sollte nicht nur, wie Max Weber gemeint hat, als „Feld diabolischer Mächte“ verstanden werden. Es sind aktuell diabolische Mächte am Wirken. Aber wichtiger ist die Vorstellung des Politischen als eines „Gewebes“, das sich dauernd verändert und dauernd verändert werden kann. Mit seiner „Kunst des Möglichen“ arbeitet Kurt Bayer auf kluge Weise an diesem Gewebe.
Ich schließe mit einem Zitat:
„Anstatt mit dem Kopf gegen eine geschlossene Tür zu rennen, werde ich das Wasser sein, das unter die Tür hindurchfließt“.
Dafür bedanken wir uns, lieber Kurt, und das wünschen wir uns von Dir noch für lange Zeit.
Das find ich wunderschön, was Sie schreiben. ich bin Kurts Schwester und kenne ihn seit 78 Jahren, so wie Sie über ihn schreiben.
Liebe grüße
Ilse Müller