by  Walter O. Ötsch

Juni 20, 2022

Karl Polanyi und Friedrich Hayek: zwei Ökonomen im Wien der 1920er Jahre

                                                   

Vortrag im Rahmen der Finnisage zur Ausstellung Von der entfesselten Wirtschaft zur solidarischen Gesell­schaft

im Wirtschaftsmuseum Wien

21.6.2022

Vielen Dank für die Einladung, zu Karl Polanyi und Friedrich August (von) Hayek zu sprechen. Mein kurzes Statement umfasst zwei Gedanken:

1. Was haben Polanyi und Hayek in ihren Theorien gemeinsam?, und

2. Wie begründen sie letztlich ihre unterschiedlichen Menschenbilder?

Ich beginne mit einigen biographischen Angaben. Polanyi kommt im Oktober 1886 in Wien auf die Welt. Hayek ist 12 Jahre jünger, auch er wird in Wien geboren. Polanyi wächst in Budapest auf, stu­diert dort Jura und Philosophie, nimmt am Ersten Weltkrieg teil, wird verwundet und bekommt Ty­phus. Er  engagiert sich 1919 in der Ungarischen Räterepublik (März bis August) und geht nach ihre Niederschlagung durch rumänische Truppen im August 1919 nach Wien.

Hayek lebt die ganze Zeit in Wien, 1922/23 ist er zeitweise in New York. 1931 holt ihn Lionel Rob­bins an die London School of Economics. Polanyi überlegt ab Ende 1932 Österreich zu verlassen, zuerst kommt Birmingham, dann London ins Spiel, wohin er 1933 emigriert.

Von 1919 bis 1931 leben also sowohl Polanyi als auch Hayek in Wien. Gareth Dale äußert die Ver­mutung, dass sich die beiden in dieser Zeit nicht persönlich gekannt haben (Dale 2018, 284, vgl. Novy 2020, 119). Ohne das belegen zu können, erscheint mir das wenig plausibel, wenn man die Dichte der persönlichen Interaktionen der sich heftig bekämpfenden Intellektuellen in den vielen privat organisierten Dis­kussionszirkeln im Roten Wien bedenkt (Nordmann 2005, 90ff.) – Hayek hat auch von 1924 bis 1926 drei Artikel im Der österreichische Volkswirt verfasst (vgl. die Biographie in Hennecke 2000, 394), Polanyi war hier ab 1924 Redakteur und ab 1925 Herausgeber.

1. Gemeinsamkeiten?

Karl Polanyi und Friedrich Hayek gelten zu Recht als Ökonomen mit einander ausschließenden Theo­rien. Hayek ist einer der wichtigsten Vertreter des Neoliberalismus. Seine Bedeutung ragt adie von Milton Friedman (1912-2006) heran, dem unbestrittenen Oberhaupt der Chicagoer Schule, Hayeks Gesamtwirkung auf die Gesellschaft ist vermutlich größer (Ötsch 2016, 2019). Polanyi hat einen eigenständige sozioökonomischen Ansatz verfasst, der oft als Gegenentwurf zum Neoliberalis­mus interpretiert wird (z.B. Thomasberger 2009a und b). Die Deutungen beider Theoretiker sind vielfältig, ihre Sekundärliteratur ist kaum überschaubar. 

Trotz dieser Differenzen teilen Polanyi und Hayek Grundstandpunkte und Begriffe. Beide haben die Österreichische Schule der Nationalökonomie intensiv studiert, daraus Elemente entnommen und in eigene Synthesen übersetzt. Sie verwenden gleiche Begriffe in einer unterschiedlichen Bedeu­tung. Über ihre konzeptuelle Gemeinsamkeiten zu reden muss natürlich auch ihre Differenzen mei­nen. Ich erwähne stichwortartig acht Gemeinsamkeiten und spreche dann über ihren gemeinsamen Begriff von „dem Markt“ in der Einzahl. 

  1. Hayek und Polanyi denken die Gesellschaft von der Wirtschaft her und die Wirtschaft von Märkten, beide sprechen von einer Marktwirtschaft.
  2. Beide gehen von einer Krise der Gesell­schaft aus, sie wollen diese Krise erklären und dazu eine Utopie formulieren.
  3. Beide lehnen es ab, den Gang der Geschichte deterministisch zu verstehen. Sowohl ein auf Marx beruhender als auch ein auf liberalen Fortschrittsideen beruhender Geschichtsdeterminismus wird verworfen. 
  4. Der Gang der Geschichte wird auch durch Ideen beeinflusst, deshalb ist es wichtig, wie Bildung und Erziehung stattfindet und welche Inhalte vermittelt werden. 
  5. Sowohl Polanyi als auch Hayek gehen in ihrer Analyse vom Individuum aus, sie folgen also, so kann man vereinfacht sagen, einem me­thodologischen Individualismus.
  6. Für beide geht es vorrangig um Freiheit und um persönliche Verantwortung, in Kritik totalitärer Systeme.
  7. Freiheit wird – darin stimmen sie überein - (zumindest im Prinzip) durch die Existenz von Privateigentum gefördert.
  8. Sie sind deswegen auch Kritiker einer zentralgeleiteten Planwirtschaft.

Nun die vertiefende Idee.

Interessant ist, dass Polanyi den Begriff „der Markt“ in der Einzahl ver­wendet, und zwar als Begriff, der eine reale historische Situation bezeichnen soll. Im Gefüge der In­dustriellen Revolution hat sich nach ihm bekanntlich ein Marktsystem herausgebildet, das als Marktwirtschaft beschrieben wird (Polanyi 1978, 68). Ein entscheidender Faktor ist der Einsatz von spezia­lisierten, komplizierten und teuren Maschinen in der Produktion (69). Die agrarische und kommerzielle Gesellschaft wandelt sich dadurch in eine industrielle Gesellschaft, das gesamte ge­sellschaftliche Gefüge wird verändert. 

Eine zentrale Bedeutung kommt der Logik der Maschine zu. „Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nichts geringe­res als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren“ (70), denn für „den Kaufmann“ müssen „alle beteiligten Faktoren käuflich sein“ (69). Die Maschine durchdringt gleichsam die Gesellschaft und macht auch Arbeit, Boden und Geld zu Waren, die von ihm bekanntlich als fiktive Waren beschrieben werden (102ff.). Die Wirtschaft wird damit „vom Markt gelenkt“ (71).

Das führt zu einer neuen Idee: „in dem Augenblick, in dem komplizierte Ma­schinen und Produktionsstätten im Rahmen einer kommerziellen Gesellschaft eingesetzt wurden, [mußte] zwangsläufig die Idee von einem selbstregulierten Markt entstehen […]“ (68). Die Folge ist ein System, bei der sich die Gesellschaft den Selbstregulierungsmecha­nismen „des Marktes“ unter­worfen hat. Diese muss „ohne Einmischung von außen funktionieren“ und stellt für die Gesell­schaft, insbesondere für die Arbeitnehmer und die Natur, eine Katastrophe dar.

Eine Analyse dieser Art ist kritischen Personen vertraut, wenn sie die aktuelle Gesellschaft verste­hen wollen, die von „dem Markt“ durchdrungen ist – wenn zum Beispiel von einer ökonomisierten, kommerzialisierten, kommodifizierten, finanzialisierten, … Gesellschaft die Rede ist. 

Ich möchte allerdings auf ei­nen Tatbestand hinweisen: Polanyi verwendet einen Begriff von „dem Markt“ in der Einzahl, den es im 18. und fast im ganzen 19. Jahrhundert nicht gegeben hat. Nach meinem Wissen wurde dieser Begriff in der Österreichischen Schule der Nationalökonomie entwickelt – vermutlich (nach Brod­beck 2015, 36) erstmals von Wilhelm (von) Neurath (1840-1901), der der sich dabei (fälschlicher­weise) auf Carl Menger bezieht. Aber dieser Begriff ist in der Denkweise der Österreichischen Schule implizit enthalten, er wird dann (unter ganz spezifischen Bedeutungen) von Ludwig (von) Mises (1881-1973) explizit ausformuliert.

Hayek, der sich ja auch (zumindest zeitweise) als Schüler von Mises beschreibt, übernimmt diesen Begriff dann, er spielt in mehreren seiner unterschiedli­chen Ansätze eine wichtige Rolle. Der Begriff „der Markt“ kann als ein zentraler Begriff des Neo­liberalismus verstanden werden.

Dies führt zu vielen Fragen im Verständnis von Polanyi und Hayek, die ich nur andeuten kann. Zuerst will ich Gemeinsamkeiten und Differenzen im Marktbe­griff bei Polanyi und Hayek beschreiben, immer in der Formulierung von „dem Markt“ in der Ein­zahl.

Der Markt“ beschreibt bei Mises (zuerst in Die Gemeinwirtschaft 1922, Mises 1932) ein idealtypisches Wirtschaftssystem, das von Anfang im dualen Gegensatz und in einer logischen Ausschließlichkeit zum seinem Gegenteil, „dem Sozialismus“, gestellt wird (Das Folgende nach Ötsch 2019, 26ff.). Der „ungehinderte Markt“ wäre jener, auf dem sich „die Gesetze des Marktes“ vollends durchsetzen können. Diese Situation gibt es nach Mises in der Realität nicht. Denn überall wird „der Markt behindert“, das heißt in ihn „eingegriffen“. Mises sieht sich vom „Sozialismus“ umzingelt. Dieser stellt ein logi­sches Gegenteil zum Marktsystem dar. Insgesamt gibt es nur die zwei Möglichkeiten „Markt“ oder „Sozialismus“. Jede Abweichung vom idealen Markt führt nach Mises zu einer sich verstärkenden Spira­le von notwendigen "Interventionen": auf immer mehr Märkten muss eirgriffen werden, das System kippt schließlich in Richtung „Sozialismus“. Reale Mischsysteme, wie das „Rote Wien“ werden nicht als eigenständige lebensfähige Systemmöglichkeiten akzeptiert. 

Dem dualen Bild entspricht bei Mises ein binärer Code: „Markt“ (und seine Theorie, der „Liberalismus“) wird mit Freiheit, Logik, wissenschaftlicher Theorie und Natürlichkeit verbunden, „Sozialismus“ (als Realität sowie als Theorie) mit Zwang, Willkür, Ideologie und Künstlichkeit assoziiert. Die Frage, wie dieser Be­griff operationalisiert wird (d.h. z.B. welche institutionellen Bedingungen vorliegen müssen, da­mit „der Markt“ in der Wirklichkeit nachgewiesen werden kann), kann Mises letztlich nicht beant­worten.

Sein Begriff soll sowohl eine Realität (für einzelne Märkte, oder Branchen sowie für ein Gesamtsystem), eine Norm, eine Möglichkeit (auch eine historische Möglichkeit) und zugleich eine (noch niemals realisierte) Utopie beschreiben – man kann von einer Polysemie „des Marktes“ sprechen. Was mit „Markt“ im Neoliberalismus genau gemeint ist, weiß man nicht.

Hayek wandelt sich unter dem Einfluss von Die Gemeinwirtschaft (so schreibt er später, noch später wird das wieder revidiert) von einem Vertreter eines „milden Fabianischen Sozialismus“ vermittelt durch seinen Doktorvater Friedrich (von) Wieser, 1851-1926) zum (Neo-)Liberalen (zu den Fabians hatte auch Polanyi intensive Kontakte). Hayek versteht, dass die apriorische Fundierung bei Mises (eine Praxeologie, die auf rationalistischen Apriori-Set­zungen beruht) philosophisch wenig attraktiv ist und entwirft andere Ansätze „des Marktes“, wobei aber die genannten Bedeutungen beibehalten werden. 

Sein Ziel ist nicht weniger als dem Kapitalis­mus eine philosophische Letztbegründung zu geben. Dieses Vorhaben versucht er in mehreren Varian­ten, u.a. in einer Evolutionstheorie, in seiner Freiheitstheorie, in seinen Ansätzen zu einer Metatheorie der Verfassung und in seiner Vorstellung „des Wettbewerbs als Entde­ckungsverfahren“ (siehe unten).

Der Unterschied dieser Ansätze zu Polanyi liegt vor allem im Gesellschaftsbegriff. „Der Markt“ (auch als homogener Begriff) ist bei Polanyi eine konkrete Wirtschaftsform, die in Differenz zur Gesell­schaft beschrieben werden kann. Gesellschaft bezeichnet eine eigenständigen Bereich. In diesen sollte – das besagt der Begriff einer „eingebetteten Wirtschaft“ – die Wirtschaft enthalten sein, d.h. sie sollte von der Politik nach gesellschaftlichen Vorgaben strukturiert werden (Keynes hat ähnlich argumentiert). In der „entfesselten Wirtschaft“ ab der Industriellen Revolution hat „der Markt“ die Gesellschaft durchdrungen (die aber gleichzeitig durch verschiedenen Formen außerökonomischer Regulierungen versucht, die zerstörerische Anarchie „des freien Marktes“ einzuschränken, die dennoch die Kapitalakkumulation unterstützen und aufrechterhalten). Auf diese Weise entsteht nach Polanyi die ökonomische Gesellschaft, die aber - so seine Utopie – wieder in die Gesellschaft zurückgeführt werden soll.

Der Neoliberalismus hingegen besitzt keinen genuinen Begriff von Gesellschaft, obwohl Hayek in sei­nen vielen Schriften auch diesen Begriff verwendet. Der zentrale Punkt ist aber, dass er (wie auch andere im Marktfundamentalismus) über ein Konzept von „Ordnung“ verfügt: die „erweiterte“ oder „spontane Ordnung“, die eine Ordnung „des Marktes“ ist. Diese Ordnung existiert zum einen bereits (das besagt seine Evolu­tionstheorie), zum anderen stellt sie aber eine Utopie dar, die erst zu realisieren ist. Mit dem Begriff Ordnung wird im Neoliberalismus das, was früher Gesellschaft hieß, mit dem Begriff Wirtschaft vermengt. Eine neoli­berale Ordnung kann nicht mehr nach Wirtschaft oder Gesellschaft differenziert werden. Der Be­griff Gesellschaft verschwindet damit aus der Wirtschaftstheorie. 

(Ein ähnlicher Vorgang ge­schieht in der Neoklassik um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, bei Léon Walras (1834-1910, dem Begründer der neoklassischen allgemeinen Gleichgewichtstheorie, gibt es noch einen Begriff von Gesellschaft.) 

Indem "der (neoliberale) Markt" die Gesellschaft in sich aufnimmt, wird er grenzenlos. Er besitzt keine Beschränkungen hinsichtlich einer gesellschaftlichen Dimension – und auch nicht im Hinblick auf ökologische Grenzen. Genau in dieser Grenzenlosigkeit war die Denkfigur „des Marktes“ in der neoliberalen Bedeutung geeignet, zum einen die Gesellschaft zu ökonomisieren, zum anderen die Umwelt zu zerstören. Die in der Theorie fehlenden Begriffe von Gesellschaft und Natur haben diese Transformation möglich gemacht, die zugleich (und unbewusst) verschleiert wird, weil man über keine Begrifflich­keit verfügt, sie zu erkennen und zu analysieren. Die Theorie von Polanyi kann uns helfen, diese Vorgänge mehr zu verstehen.

So betrachtet analysiert Polanyi also eine Wirtschaftsform des 19. Jahrhunderts (eine Wirtschaft des Marktes, die zu einer Gesellschaft des Marktes geworden ist), die im Neoliberalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Utopie formuliert wurde und sich im Siegeszug des Neoliberalismus ab den 1980er durchsetzt.

2. Die Wurzeln ihres Menschenbildes

Ich komme zu meinem zweiten Gedanken. Ein Kern aller Theorien, die sich mit der Zukunft der Gesellschaft beschäftigen, ist ihr Menschenbild. Polanyi ist ein religiöser Denker, er bezeichnet sich als christlicheLinken. Die Freiheit im Denken und im Tun, die er für eine künftige Gesellschaft will, wird religiös und ethisch begründet. Sie alleine ist der menschlichen (christlichen) Seele adäquat und aus ihr begründet Polanyi seine Utopie einer freien Gesellschaft.

Hayek hingegen ist diesbezüglich völlig flach. Ekann eine religiöse oder spirituelle Dimension im Menschen nicht denken. Hayek verwendet in seinem letzten populären (und man kann sagen eher kuriosen) Werk Die verhängnisvolle Anmaßung (1988 publiziert) den Begriff Transzendenz, aber nicht für den Menschen, sondern für die „erweiterte Ordnung“: ihre Funktionsweise sei „transzendent“ (Hayek 1996, 76). Im Anschluss darauf verweist Hayek auf das Vaterunser „Dein Wille geschehe“ und auf das Johannes-Evangelium: „nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt“ (ebenda). Mit „Er“ ist „der Markt“ gemeint, „sein Wille“ soll geschehen.

Folgerichtig ladet Hayek „die erweiterte Ordnung“ mit Aspekten des christlichen Gottes auf: „Der Markt“ ist nach Hayek nichtverstehbar, er ist allwissend, unfehlbar und allgütig – ihm haben die Milliarden Menschen ihre Existenz zu verdanken. „Der Markt“ ist auch der letzte Richter für alle. Mit seinen Preisen sagt er uns, was wir hätten tun sollen – nicht, was wir getan haben (Hayek 1998, Bd. I, 116). Für Hayek ist „der Markt“ unergründlich, genau deswegen sollen Menschen ihm gegen­über eine Haltung von Demut entwickeln, das macht den „wahren Individualismus“ aus (Hayek 1958, 8).

Der unergründlichen Tiefe „des Marktes“ steht bei Hayek keine Tiefe in menschlichen Bewusstsein gegenüber. Denn das menschliche Bewusstsein hat nach Hayek nur eine beschränkte Reichweite. Wenn wir Hayeks Jugendwerk The Sensory order (das er in einer ersten Skizze im September 1920 verfasst, aber erst 1952 publiziert, vgl. Hennecke 2000, 45) mit seiner späteren Vorstellung „des Marktes“ als einem wissensproduzierenden Prozess verknüpfen (Hayek 1937 und 1945), dann kann der Mensch (bzw. die Mehrheit der Menschen, die Hayek auch als „Masse“ bezeichnet, Hayek 1949) in seinem wirtschaftlichen Tun nur wenig bewusst agieren.

Denn „die erweiterte Ordnung“ ist nach Hayek durch „konstitutive Regeln“ gekennzeichnet, die weitgehend unbewusst sind, man „weiß“ sie schlichtweg nicht (Hayek 1998, Bd. 1, 43). Auf diese Regeln reagieren Menschen auto­matisch und unbewusst. Bezeichnenderweise führt Hayek bei der Erklärung seines Konzeptes der „erweiterten Ordnung“ in Law, Legislation and Libertyeine physikalische Metapher an: Menschen reagieren auf Marktpreise so, wie Eisenspäne ein Muster auf einem Papier bilden, wenn sie unter dem Einfluss eines Magnetfelds geraten (Hayek 1998, Bd. 1, 39ff.). Die Eisenspäne sind wir alle, der Magnet ist „der Markt“. So geschieht "sein" Wille faktisch.

Als kaum bewusste Wesen sind wir nach Hayek in unserer Vernunft beschränkt, er führt damit einen direkten Angriff auf das Konzept der Vernunft in der Aufklärung. „Der Markt“ hingegen wird wie ein überbewusstes Wesen geschildert. Er bildet einensupra-conscious mechanism” (Hayek 1967, 61), der oberhalb des menschlichen Bewusstseins positioniert wird und diesem überlegen ist.

„Der Markt“ ist die primäre Wissensinstanz bzw. der primäre Prozess der Produktion von gesellschaftlich relevantem Wissen. Dieser Wissensfülle und ihrer Komplexität gegenüber sind die Menschen (mit ihrer beschränkten Er­kenntnisfähigkeit) unwissend, nichtwissend und „konstitutiv ignorant“und diese Ignoranz kann aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht aufgehoben werden (Hayek 1990, 77). Aber dieser Tatbestand stellt nach Hayek kein prinzipielles Problem dar, weil es ja „den Markt“ als Abhilfe gibt. Sei­ne Regeln „sind ein Instrument,“, schreibt Hayek, „um mit unserer konstitutionellen Ignoranz umgehen zu können“ (Hayek 1998, Bd. 2, 8, eigene Übersetzung). „Der Markt“ „denkt“ gleichsam etwas, was wir selbst gar nicht denken können (vgl. Mirowski/Nik-Khah 2017, 70). 

In letzter Konsequenz wird in diesem Bild sogar die Idee eines autonomen Individuums in Frage gestellt (vgl. Slobodian 2019, 329f.). Bei Hayek gibt es keine eigenständigen mentalen oder geistigen Prozesse, es handelt sich letztlich nur um „physikalische Prozesse“ (so Hayek in The Counter-Revolution of Science. Studies on The Abuse of Reason, 1952, 191). Hayek spricht in die­sen Textstellen nicht mehr vom Menschen als Entscheidungsträger, sondern vom Gehirn als kom­plexem Netzwerk interneuronaler Verbindungen.

Er verlagert damit die Untersuchung der Gesell­schaft von der Ebene des Menschen (im methodologischeIndividualismus ist das der Ausgangs­punkt für die Gesellschaft) auf die Ebene von Neuronen (vgl. Slobodian 2018, 229) – aktuelle Bei­spiele kennen wir aus der Neuroökonomie. In dieser Vision sind die Netzwerke von Milliarden Ge­hirnen an das globale Netzwerk „des Marktes“ gekoppelt – und beide Arten von Netzwerken sind derart komplex, dass sie vom menschlichen Geist nicht mehr verstanden werden können.

[Zusatzfrage: 

Ist das Hintergrund, warum die meisten Ökonom:innen nach 2008 keine Analyse der Finanzkrise vorgelegt haben bzw.  nicht vorlegen konnten – weil sie der stillschweigenden Meinung waren/sind, dass sie den Kapitalismus als System nicht mehr kognitiv durchdringen können?]

Kontrastieren wir Hayeks Mensch-Maschinen-Bild mit dem von Polanyi. Bei Polanyi besitzen die Menschen eine Seele, d.h. eine tiefe Innerlichkeit, deswegen bilden sie eine Einheit und deswegen sind sie einzigartig (Polanyi 1935, 369f.). Daraus begründen sich nach Polanyi die Ideen der Aufklärung: der Menschenrechte, der Überzeugung von einer Würde des Menschen und ihrer Gleichheit. Die These der Brüderlich­keit ist für ihn nichts anderes ist als die Behauptung über die „Gleichheit der Individuen als Indivi­duen“ (Polanyi 1978, 366, vgl. Valderrama 2018,146).

Polanyi will die politischen Ideen der Auf­klärung weiterentwickeln. Dazu braucht es sein Konzept der Gesellschaft: eine Person kann nur in Interaktion mit anderen existieren (Polanyi 1978, 370) – Adam Smith hat übrigens in der Theory of Moral Sentiments ähnlich argumentiert. Das Individuum ist einzigartig und letztlich frei, weil es persönliche Verantwortung für sein eigenes Handeln und für die Gesellschaft, in der es lebt, über­nehmen kann. Es ist in der Lage, die Gesellschaft nach seinem Willen und seinen Wünschen zu ge­stalten, denn die Gesellschaft ist im Wesentlichen sein Werk. Die Tiefe seiner Seele macht den Menschen frei und in dieser Freiheit kann er die Gesellschaft frei gestalten.

Dieses Konzept spricht Polanyi am Schluss der Great Transformation emphatisch an. Hier ordnet er dem westli­chen Menschen ein reichhaltiges Bewusstsein zu: er weiß um seinen Tod, um seine Freiheit und um die Gesellschaft (Polanyi 1978, 342). Dieses Wissen beruht letztlich auf religiösen Wurzeln, das ers­te wurde im Alten, das zweite im Neuen Testament geoffenbart. „Die dritte Offenbarung erfuhren wir durch das Leben in einer Industriellen Gesellschaft“. Polanyi verweist hier auf Robert Owen, der als „erster“ die Diskrepanz einer (wirklichen, d.h. auch einer christlich begründeten) Freiheit zu der „gesellschaftlichen Realität“ in einem Marktsystem erkannt habe. 

Die Krise der Gesellschaft er­fordert nach Polanyi die Anerkennung der Gesellschaft und ihrer potentiellen Freiheit. „Sie ist das konstitutive Bewussteinselement des modernen Menschen“ (ebd., 343). 

Angesichts der Möglichkeit der Selbstauslöschung des Menschen durch die ökologischen Krisen gibt Polanyi den Rat, „die Realität des Todes“ zu akzeptieren und „darauf die Sinngebung für sein physisches Sein“ zu begründen. So kann sich, das meint Polanyi, eine Freiheit entfalten, die die Be­dürfnisse der Gesellschaft ernstnimmt.

Sie „gibt dem Menschen den unbezwinglichen Mut und die Kraft, alle Ungerechtigkeit und die Unfreiheit, die sich beseitigen lassen, zu beseitigen: […] Dies ist die Bedeutung der Freiheit“, so der letzte Satz, „in einer komplexen Gesellschaft, sie gibt uns die ganze Gewissheit, derer wir bedürfen.“ (ebd., 344).

Zitierte Literatur

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