by  Walter O. Ötsch

Januar 4, 2021

Der vorliegende Band stellt ein erstes Grundlagenwerk zur Imaginationsforschung in der Ökonomie dar.

Er erforscht die ökonomische Theoriegeschichte (auch mit Bezug auf die Philosophiegeschichte) und fragt, welche Bilder und Selbstbilder über Menschen, über das wirtschaftliche System und über die Zukunft in ökonomischen Theorien enthalten sind. Wie ist die Beschäftigung mit Imaginationen im Mainstream der Wirtschaftswissenschaftenverloren verloren gegangen und wie kann sie wiederbelebt werden? 

Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, Zur Geschichte und Aktualität imaginativer Fähigkeiten in der Ökonomie

Herausgegeben von Walter Otto Ötsch und Silja Graupe, Juli 2020, Springer VS Wiesbaden. 

Aus dem Vorwort von Walter Ötsch und Silja Graupe

Unübersehbar ist die Fülle von Bildern geworden. Sie bilden die Wirtschaft nicht nur ab, sondern gestalten sie in hohem Maße. Die Charts abstürzender Börsenkurse z.B., die 2008 medial vermittelt wurden, haben sich tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben. Auf sie wurde in aller Welt mit panischen Verkäufen reagiert, neue Bilder wurden fast in Echtzeit rund um den Erdball verbreiten, auf die weitere Akteure reagierten, usw. Selbstverständlich sind die Kartons, die in großer Eile aus den Büros von Lehman Brothers in New York getragen werden, ebenso echt, wie ihre Eigentümer und ihr wirtschaftliches Schicksal. Und dennoch sind es die Bilder von diesem Ereignis, nicht die Erfahrung selbst, auf die die Öffentlichkeit und die Politik reagiert haben. Die Wirtschaft, so kann man sagen, speist sich heute in hohem Maße nicht mehr so nur aus unmittelbaren physischen Bedingungen (etwa der Produktion) oder zwischenmenschlichen Beziehungen (beispielsweise im Tausch), sondern aus der Anschauung von Bildern. Dies gilt nicht nur für Ausnahmeereignisse wie die Finanzkrise 2008, sondern für eine Fülle alltäglicher Praktiken in der Wirtschaft, beispielsweise auf jene, die sich auf die Zukunft beziehen, die – so kann vermutet werden – mit Hilfe von imaginierten Zukunftsbildern zugänglich wird. Ebenso kann die Wirkung der allgegenwärtigen Werbung auf die Beeinflussung unbewusster Vorstellungen zurückgeführt werden.

In diesen Prozessen ist es, worauf die Künstlerin Sandra del Pilar hinweist, nahezu unausweichlich, dass sich Bilder auf Bilder zu beziehen beginnen, ohne je noch eine irgendwie geartete reale Erfahrungswelt zu berühren. Es entsteht eine Art Netz visueller Eindrücke: del Pilar nennt es in Anlehnung an den Terminus „Hypertexualität“ des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette treffend „Hyperpikturalität“. Dieses Netz kann sich derart verdichten,

„dass es zur Formierung einer eigenen Realität kommen kann, einer mentalen Wirklichkeit, obgleich man sie nicht am eigenen Leib erlebt hat, doch ebenso präsent und bestimmend für das physische Dasein sein kann.“ (Pilar 2009)

Bilder der Wirtschaft, Bilder über Zustände der Wirtschaft, Bilder von designte Produkten, Bilder über die Auswirkungen auf die Zukunft, … – all diese Bilder werden somit als Realität empfunden – und wirtschaftliche Handlungen stellen Reaktionen auf diese Art der Empfindung dar. Bereits in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat Walter Lippmann auf die Dreiecksbeziehung zwischen dem Menschen, seiner Handlungswelt und dem Reich der Bilder verwiesen, das er als Pseudo-Umwelt bezeichnet hat (vgl. Ötsch und Graupe 2018). Je mehr der Unterschied zwischen der Pseudo-Umwelt und der real erfahrbaren Umwelt schwindet – unsere Studierenden etwa vermögen im Zeitalter der selbstverständlichen Nutzung digitaler Medien kaum noch systematische Differenzen auszumachen – so sehr wachsen sich die Bilder von der Wirtschaft und über ihre Aspekte zu einem eigenständigen Subjekt aus. Bildliche Vorstellungen von der Wirtschaft, die eigentlich stets der kritischen Reflexion ob ihrer Stellung zur Realität bedürften, wandeln sich in eine Bildlichkeit der Wirtschaft um, die Menschen mehr und mehr unkritisch als eigene Wesenheit zu behandeln auf diese bloß noch passiv zu reagieren drohen.

Die Erforschung des bildlichen Charakters der Wirtschaft ist in den letzten Jahren auch zum Gegenstand interdisziplinärer ökonomischer Forschung geworden.1 Doch bleibt dabei bislang ein wesentlicher Aspekt eher unberücksichtigt. Es ist dies die Frage nach dem Ursprung der Bilder und – in der Folge – nach ihrer potentiellen Gestaltbarkeit. Warum und in welcher Weise besitzen Menschen imaginativ-produktiven Kräfte? Woraus entspringen sie und in welcher Weise sind sie für wirtschaftliches Handeln relevant? Und: Wer schafft die heutigen Leitbilder der Wirtschaft und wer vermag sie verantwortlich zu gestalten?

Im vorliegenden Sammelband gehen wir dieser Frage auf eine grundlegende Weise nach, indem wir die Imaginationsfähigkeit des Menschen im Allgemeinen und von ökonomischen Akteuren im Besonderen in den Mittelpunkt interdisziplinärer Forschung stellen. Eine lange philosophische und durchaus auch wirtschaftswissenschaftliche Tradition besagt, dass Bilder weder einfach „da“ sind, noch lediglich aus den Tiefen des Unbewussten irgendwie emporsteigen. Es liegt vielmehr in der schöpferischen Fähigkeit des Menschen, bildliche Vorstellungen individuell wie kollektiv zu schaffen (imaginatio), auf denen seine moralischen Bewertungen ebenso wie seine Vernunft (ausgedrückt in Sprache und Symbolen) sowie seine sittlichen Handlungsprinzipien beruhen. Doch ist in der Ökonomie heute ist ein umfassendes Verständnis dieser Fähigkeit zur aktiven Imagination nicht mehr zu finden. Vorherrschend ist (wenn dies überhaupt thematisiert wird) eher die Vorstellung einer passiven und sich lediglich stillschweigend vollziehenden Einprägung von Bildern in das menschliche Unbewusste. Weder vermögen Ökonomen mehr zu sagen, welche Bilder ihren eigenen wissenschaftlichen Verstand prägen, noch wie handlungsleitenden Bilder und Leitbilder der Wirtschaft in der Imagination wirtschaftlicher Akteure entstehen.

Kurz gesagt, unternimmt der vorliegende Band den Versuch, diese Forschungslücke zu schließen, indem er erstmalig grundlegende Beiträge zur Imaginationsforschung in der Ökonomie vereinigt. Wir versuchen einen Aspekt des wirtschaftenden Menschen zu thematisieren, der in der zeitgemäßen Ökonomik wenig untersucht wird: nämlich seine Fähigkeit Bilder wahrzunehmen, zu deuten, zu produzieren und zu teilen und darauf sowohl seine soziale Wahrnehmung als auch sein soziales Handeln zu begründen (vgl. bereits 2009 Van den Berg und Priddat). Wir wollen damit einen Beitrag zu einer Grundlagendebatte in der Theoriebildung der Ökonomik liefern. Weil es um kategoriale Fragen geht, wurden zu diesem Versuch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem Bereich der Ökonomik eingeladen, die an philosophischen Fragestellungen Interesse haben, sowie Philosophen und Philosophinnen und philosophisch orientierte Kultur­wissenschaftlerInnen, die zu ökonomischen Themen arbeiten. Das Buch will einen inter- oder transdisziplinären Dialog der Felder Ökonomie und Philosophie dokumentieren, der vor einigen Jahren an der Cusanus Hochschule begonnen wurde (u.a. in einem Workshop im September 2016, einer Tagung im Mai 2017 – vgl. dazu Ötsch und Graupe 2018 – und einem Workshop im Dezember 2019) und in den nächsten Jahren fortgesetzt werden soll.2 Die Thematik von Bildlichkeit scheint uns (das können wir in diesem Band nur andeuten) Aspekte der aktuellen Gesellschaft verstehbar zu machen, die in hohen Maße auf der andauernden bewusten (auch manipulativen) Produktion von Bildern beruht, die aber gleichzeitig kaum einen Diskurs darüber zu führen vermag – auch weil der Aspekt der Bildlichkeit gleichsam in ein gesellschaftliches Unbewusstes verbannt worden ist.

1 In vielen Wissenschaften hat eine „ikonische Wende“ stattgefunden, auch als „iconic“, „pictorial“, „imagic“ oder „visualistic turn“ bezeichnet. Beispiele aus der Wirtschaftssoziologie bzw. den Wirtschaftswissenschaften sind: (1) die These von Andreas Langenohl (2007), dass die Finanzmärkte langfristig durch ein „Imaginäres“ erklärt werden müssen, Langenohl rekurriert dabei vor allem auf Cornelius Castoriadis 1990; (2) der Befund von Elena Esposito, durch die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung sei es ab der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einer „Realitätsverdoppelung“ gekommen: sie meint die neue mit Wahrscheinlichkeitstheorien, d.h. fiktional berechnete Welt, die aber im Hinblick auf Zukunftsentscheidungen keine Sicherheit, aber dennoch Orientierung bieten kann: „Das Wahrscheinliche ist fiktional, aber nur deshalb funktioniert es, und nur deshalb bietet uns jene Orientierungsmöglichkeiten, die die ‚reale Realität‘ nicht bieten kann“ (Esposito 2014, S. 55). Aber diese basieren notwendig auf Szenarien: „Man entwickelt ein Szenario für die Zukunft und entscheidet sich dann in der Gegenwart, man definiert das Sichere über das Unsichere“ (ebenda. S. 83). (3) Ekaterina Svetlova entwickelt den Ansatz, man müsse ein kontrafaktuelles Denken als analytisches Werkzeug für Finanzentscheidungen verstehen: Investoren „sehen“ etwas, was andere nicht „sehen“ (vgl. Svetlova 2009): bzw. allgemeiner: „Equities are made valuable while they are constructed as “investment objects” by means of models and stories; however, models’ results are frequently guided by the imagination and narratives of their users.“ (Svetlova 2018, S. 152); (4) die Analysen von Birger Priddat, z.B. in einer direkten Kritik der Standardökonomie: „Vieles, was in der Ökonomik bisher als Preis/Mengen/Qualitätsbewertung gerechnet wird, erweist sich als durch Kommunikations- und Narrationsprozesse moduliert. Erwartungen z.B. sind narrativ wie kommunikativ generierte kognitive Programme oder Skripten, die mit erzähltheoretischen Konzepten (Fiktion, Simulation, Imagination) konziser erschlossen werden können als mit den kognitivistischen Bestimmtheiten, die sich die Ökonomie selbst verleiht.“ (Priddat 2016, S. 83). Aber Narrationen könnte man auch direkt auf eine Basis von Bildlichkeit beziehen. (5) die Analysen von Jens Beckert, dass ökonomische Entscheidungen notwendig unter Bedingungen fundamentaler Ungewissheit stattfinden, sie müssen deshalb in Fiktionen verankert sein: „‚Fiktionalität‘ umfasst die Vorstellungen des zukünftigen Zustands der Welt und der kausalen Mechanismen, die zu diesem Zustand führen. Akteure werden durch diese Imaginationen der Zukunft motiviert und organisieren ihre Handlungen auf ihrer Grundlage. Da die Vorstellungen nicht an die empirische Realität gebunden sind, ist Fiktionalität auch eine Quelle der Kreativität“ (Beckert 2011, S. 1). Beckert weist in seinem neuen Buch Imaginative Zukunft „Bilder der Zukunft eine tragende Rolle“ für ein Verständnis des Kapitalismus zu (S. 13). Sein Ansatz basiert auf dem Konzept von „fiktionalen Erwartungen“. Sie werden definiert als „Bilder, die ein Akteur in seiner Vorstellung heraufbeschwört, wenn er über zukünftige Zustände der Welt nachdenkt […]“ (Beckert 2018, S. 23f.), aber Beckert entwickelt seine Theorie in den Termini von Narrationen und spricht kaum explizit über Bilder.

2 Vgl. dazu den Schwerpunkt „Bildlichkeit und Verlust von Bildlichkeit in Philosophie und Ökonomie“ in der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie Band 41(3) mit den Aufsätzen Graupe 2016, Schneider 2016, Ötsch 2016 und Zeyer 2016.

Zitierte Literatur

Beckert, Jens. 2018. Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, Berlin: Suhrkamp.
Castoriadis, Cornelius. 1990. Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer Politischen Philosophie, Frankfurt: Suhrkamp.
Esposito, Elena. 2014. Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Graupe, Silja. 2016a. ‚Gefangene der Bilder in unseren Köpfen‘. Die Macht abstrakten ökonomischen Denkens. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 41 (3): 341-364.
Langenohl, Andreas. 2010. Finanzmarkt und Temporalität. Imaginäre Zeit und die kulturelle Repräsentation der Gesellschaft, Stuttgart: Lucius & Lucius.
Ötsch, Walter Otto. 2016. Imaginative Grundlagen bei Adam Smith. Aspekte von Bildlichkeit und ihrem Verlust in der Geschichte der Ökonomie. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 41 (3): 315-340.
Ötsch, Walter Otto, Graupe, Silja. 2018. Einführung: Die Bedeutung von Bildern für Denken und Sprechen. In Macht der Bilder. Macht der Sprache, hrsg. Walter Otto Ötsch, Silja Graupe, 9-19. Neu-Isenburg: Lenz Verlag.
Pilar, Sandra del. 2009. Wie Bilder Wirklicheit machen. Hyperkontextualität und Visueller Diskurs. www.sandra-del-pilar.com/texte.html.
Priddat, Birger P. 2016. Erwartung, Prognose, Fiktion, Narration. Zur Epistemologie des Futurs in der Ökonomie, Marburg: Metropolis.
Schneider, Wolfgang-Christian. 2016. Auf dem Weg zum inneren Bild. Verstehen und Bildwerdung bei Cusanus und Gianfrancesco Pico mit Blicken auf Jan van Eyck und Hieronymus Bosch. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 41 (3): 255-287..
Svetlova, Ekaterina. 2009. ‚Do I see what the market does not see?‘ Counterfactual thinking in financial markets, Social Research 34 (2): 147-160 (DOI: 10.12759/hsr.34.2009.2.147-160).
Zeyer, Kirstin. 2016. Operative Bildlichkeit in der cartesianischen Philosophie. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 41 (3): 289-314.
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