by  Walter O. Ötsch

August 11, 2021

Das Projekt der neoliberalen Globalisierung - der Welt, in der wir leben. Neu erzählt von Quinn Slobodian                                       

Rezension von Walter Ötsch von: Quinn Slobodian (2019): Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, Berlin: Suhrkamp. 522 S., ISBN978-3-518-42903-7, EUR 32,00, erschienen in Ethik und Gesellschaft 1/2021 (dort als pdf verfügbar).

Das Buch ist verbilligt beziehbar bei der Bundeszentrale für Politische Bildung.

Die Frage nach dem Neoliberalismus ist für ein Verständnis der aktuellen Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Was ist Neoliberalismus? Gibt es ihn überhaupt? Und wenn ja: In welcher Weise ist er bedeutsam und wie ist er wirksam? Slobodians Buch widmet sich diesen Fragen mit neuen und überraschenden Erkenntnissen.

Quinn Slobodian ist ein kanadischer Historiker, der jetzt am Wellesley College in Massachusetts tätig ist. Sein Buch, das im englischen Original 2018 erschienen ist, hat ihn zu Recht bekannt gemacht. Er beleuchtet einen Strang in der Entstehung des Neoliberalismus, der vorher auch den SpezialistInnen auf dem Feld kaum bekannt gewesen war. Mit seinen Erkenntnissen können wir den Neoliberalismus neu deuten oder zumindest versuchen, neue Aspekte in einem inte- grierten Bild zu erfassen.

Die Erforschung des Neoliberalismus birgt viele Schwierigkeiten. Sie liegen auch im Begriff, der in vielen Bedeutungen verwendet wird. Man spricht vom Neoliberalismus als einem Projekt zur Umgestaltung der Gesellschaft, als einer Sammlung unterschiedlicher Wirtschaftstheorien, als einer wirtschaftspolitischen Periode (welche die keynesi- anische Periode abgelöst hat), als einer Form des Wirtschaftssystems (auch im Zusammenhang mit der Vorstellung eines Finanz- oder finanzialisierten oder Rentier-Kapitalismus), als einer Gesellschafts- form (die neoliberale Gesellschaft) oder als ein Selbstkonzept (das neoliberale Selbst), wie zum Beispiel einem »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2013). Neoliberalismus ist zudem ein kritischer Begriff, mit dem vor allem im deutschen Sprachraum der Kapitalismus oder wichtige Aspekte von ihm thematisiert werden.

Die meisten ÖkonomInnen fühlen sich einem Mainstream verpflichtet. Sie reden nicht von Kapitalismus, sondern von Marktwirtschaft und lehnen den Begriff Neoliberalismus ab. Gängig ist auch die Behauptung, einen Neoliberalismus würde es gar nicht geben, er sei nur eine Erfindung von Gegnern. Philip Mirowski, der wichtige Beiträge zur Geschichte des Neoliberalismus veröffentlicht hat, sprach von einem »Political Movement that Dared not Speak its own Name« (Mirowski 2014).

Die Klärung dieser Fragen ist vorrangig eine Aufgabe von historisch forschenden Personen. Zu fragen ist, welche der angesprochenen Aspekte empirisch mit welcher Valenz aufgezeigt werden können. Vor dem Buch von Slobodian lautete das gängige Narrativ in der Erforschung des Neoliberalismus vereinfacht so: Der Neoliberalismus entstand in den 1920er-Jahren in Wien (führend waren Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek) und hat sich 1938 im so genannten Walter Lippmann Kolloquium in Paris als Sammelbewegung mehrerer Richtungen in der Ökonomie (vor allem der Österreichischen und der Chicagoer Schule sowie des deutschen Ordoliberalismus) international vernetzt – dabei wurde übrigens von den Versammelten der Begriff Neoliberalismus als Selbstbezeichnung ihrer neuen Bewegung gewählt. Unter der Federführung von Hayek wurde dann 1947 am Genfer See die Mont Pèlerin Society als Nachfolgeorganisation gegründet. In ihrem Umkreis entstanden über die Jahrzehnte mehrere hunderte Think Tanks weltweit – sie verfolgten das Ziel, die politischen und wirtschaftlichen Eliten und die mediale Öffentlichkeit zu beeinflussen. In den 1970er-Jahren gelang dann fast zeitgleich der politische Durchbruch in den beiden Zentren des Kapitalismus: in den USA unter Ronald Reagan und in Großbritannien unter Margaret Thatcher. Von hier aus wurde das Projekt einer weltweiten Durchset- zung neoliberaler Wirtschaftspolitiken betrieben, das vor allem ab 1989, nach dem Kollaps des Staatssozialismus, unter dem Schlagwort ›Globalisierung‹ Fahrt aufgenommen hat. Wichtig war dazu auch die Abkehr der Wirtschaftstheorie vom Keynesianismus, die vor allem von der Chicagoer Schule, am prominentesten durch Milton Friedman, betrieben wurde. Die Chicago Boys wurden seit den 1970er-Jahren zur weltweit wichtigsten Schule der Ökonomie.

Slobodians Ansatz

Diese Geschichte ist nicht falsch, aber nach Slobodian unvollständig. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf eine bislang unterbelichtete Richtung im neoliberalen Camp, die er Genfer Schule nennt. Sie umfasst vor allem Personen, die am Genfer Hochschulinstitut für Internationale Studien (Institut des Hautes Études Internationales, das 1927 gegründet wurde) tätig waren, wie Mises (in engem Kontakt mit Hayek,der damals an der London School of Economics tätig war), den ordoliberalen Wilhelm Röpke oder den polnischen Ökonomen Michael Heilperin. Im Austausch mit dem Völkerbund, der 1920 gegründet wurde und in Genf angesiedelt war, wurden Konzepte einer neuen internationalen politischen und wirtschaftlichen Ordnung entwickelt. Hier wurde gewissermaßen ›die Globalisierung‹ der 1990er-Jahre vorausgedacht, manche ihrer Überlegungen wurden später auch umgesetzt. Die Geschichte des Neoliberalismus, so erzählt, verschmilzt mit der Geschichte der globalen Ordnung, in der wir heute leben. Denn eine solche Ordnung beruht wie jede Ordnung – das wird oft übersehen – auf Konzepten, die jemand formuliert oder vorausgedacht haben muss.

Slobodian entwirft in seinem Buch eine neue Betrachtungsebene in der Erforschung des Neoliberalismus. Ihm geht es vorrangig nicht um die (oberflächliche und durchaus ideologische) Frage »Wollt ihr mehr Markt oder wollt ihr mehr Staat?«, die jahrzehntelang in vielen Ländern vorgebracht wurde, sondern um Fragestellungen, die auf die globale Ebene zielen. Aus welchen Prinzipien sollte, so wurde im Genfer Institut diskutiert, eine neue globale Weltordnung entwickelt werden und welche Institutionen müssten dafür geschaffen werden? Bzw.: Welche globale Utopie könnte die Zukunft des Kapitalismus sicherstellen und welche Institutionen würden dazu benötigt werden?

Slobodian verbindet in seinem Buch mehrere Erzählstränge. Zum einen beschreibt er im Detail Ideen, Pläne und Debatten, zum ande- ren institutionelle und gesetzgeberische Entwicklungen: Was haben welche Personen wann vorgebracht und wie wurden ihre Vorschläge in welchem Kontext abgelehnt oder umgesetzt? Slobodian entwirft keine simplen Schwarz-Weiß-Bilder, sondern zeigt, auf welchen verschlungenen Wegen Gedanken aus dem Elfenbeinturm von Personen, die anfangs wissenschaftliche Außenseiter waren, in langen und wiederholten Versuchen politisch bedeutsam werden und wie sie damit auch institutionelle Strukturen beeinflussen konnten.

Slobodian dringt tief in die Gedankenwelt der ersten neoliberalen Denker ein. Vor allem gelingt es ihm, scheinbar paradoxe Elemente im neoliberalen Denken, die im aktuellen politischen und gesellschaft- lichen Diskurs immer noch vorgebracht werden, klar zu benennen. Grundlegend ist für ihn die Beziehung von Wirtschaft, Politik und Demokratie im globalen Maßstab, sie wird gleich im Vorwort angesprochen. Die utopische Grundidee der Genfer Schule (Slobodian spricht von einem »wehrhaften« oder »militanten Globalismus«, 27f.) war es, Wirtschaft, globale Gesellschaft und nationale Politik in zwei Bereiche aufzuteilen und hierarchisch anzuordnen. Auf der oberen, der globalen Ebene sollte eine Einheit konstruiert werden, bei der es um Bodenschätze, Produktion, Verteilung und Eigentum ging. Global sollte »der Markt« (vgl. dazu Ötsch 2019) ungehindert herrschen und eine einheitliche Ordnung bilden. Die Politik hingegen sollte auf die untergeordnete Ebene der einzelnen Staaten beschränkt bleiben. Ihr Aktionsraum sollten die nationalen Territorien sein. Die nationalen Politiken sollten demokratisch ablaufen, aber die Demokratie sollte in diesem Konzept – und das war zentral – in ihrer Macht begrenzt werden. Die Politik sollte nur nationale Belange betreffen, aber die globale Ordnung »des Marktes« nicht gestalten und beeinflussen können (139f. und 185f.): »Die normative neoliberale Weltordnung ist kein grenzenloser Markt ohne Staaten, sondern eine doppelte Welt, die von den Hütern der Wirtschaftsverfassung vor den Forderungen der Massen nach sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung geschützt wird.« (29.

Diese Utopie wurde in einer Zeit formuliert, in der der Kapitalismus durchaus bedroht war, viele Intellektuelle sahen in den 1930er-Jahren sein Ende kommen. Spätestens seit den 1990er-Jahren galten weltweite Märkte, globaler Wettbewerb und der Primat von Privateigentum als selbstverständliche Tatsachen: Wie konnte ein solches Umdenken in der Zeitspanne von etwas mehr als einem hal- ben Jahrhundert möglich werden?

Die einzelnen Kapitel

Slobodian beschreibt Aspekte dieses Prozesses in sieben Kapiteln. Dabei werden jeweils andere Themengebiete historisch aneinandergereiht.

Im ersten Kapitel (›Eine Welt der Mauern‹, 43−81) wird erzählt, wie die Imperien des 19. Jahrhunderts (Habsburger und osmanisches Reich) durch den Ersten Weltkrieg zerfielen und welche Skepsis die ersten Neoliberalen den national agierenden Nachfolgestaaten ent- gegenbrachten. Die Genfer Schule richtete ihre Aufmerksamkeit auf die globale Ebene und versuchte, hier Einfluss zu bekommen, z.B. auf die Internationale Handelskammer und den Völkerbund. Diese beiden Institutionen organisierten 1927 auch die Genfer Weltwirtschaftskonferenz. Hier gelang es neoliberalen Ökonomen unter Mithilfe der Wiener Handelskammer, an der Mises seit 1918 in führender Funktion tätig war, die heute gebräuchlichen Metaphern von Zöllen als ›Zollmauern‹, ›Zollschranken‹ oder ›Handelshemmnissen‹ zu verankern. Dazu wurden auch mehrere hölzerne Landkarten Europas gebaut, auf denen einzelne Länder durch die hohen Mauern nur verzerrt zu sehen waren. Das zweite große ›Hindernis‹ bildeten für die Genfer Schule die Arbeiter und ihre Ansprüche. Ihr Ziel war es, die Gewerkschaften zugunsten der global gedachten Wirtschaft zu Fall zu bringen.

Im zweiten Kapitel (›Eine Welt der Zahlen‹, 83−131) geht es um die Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise 1929, welche die Vision einer globalen Wirtschaft erschütterte. Mises hatte im Jahr 1926 das Österreichische Institut für Konjunkturforschung gegründet und in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen auch das Instrument eines »Konjunkturbarometers« entworfen. Dieses »implizierte, dass die Wirtschaft dem Wetter vergleichbar war: Sie entzog sich der direkten menschlichen Kontrolle.« (91) Man wollte auf diese Weise das Auf und Ab der Konjunktur als natürliche Bewegung deuten, nicht um die Zyklen durch die Politik zu mildern (wie das später Keynes intendierte), sondern um die Politik den Bewegungen »der globalen Wirtschaft« unterzuordnen.

Später wurde dann eine scheinbar umgekehrte Strategie eingeschlagen, die in ihrer Logik bestechend ist: nämlich die Weltwirtschaft nicht durch Zahlen, sondern als ›unsichtbar‹ darzustellen, d.h. sie als nicht greifbar und nicht erkennbar zu beschreiben. Slobodian spricht von der »negativen Theologie« der Genfer Schule: Ihr »Programm bestand darin, geeignete Institutionen zu errichten, um der Weltwirtschaft einen Ordnungsrahmen zu errichten, ohne die Weltwirtschaft selbst zu beschreiben« (127). Nach den Erschütterungen durch die Weltwirtschaftskrise waren die Neoliberalen nach Slobodian überzeugt, dass ein solches Programm aktiv angestrebt werden müsse – die spätere Hegemonie der USA spielte damals noch keine Rolle.

In den folgenden Kapiteln werden mehrere Projekte der Neoliberalen geschildert; manche sind gelungen, andere misslungen. In Kapitel 3 (›Eine Welt der Föderationen‹, 133−173) geht es um mehrere Vorhaben der Genfer Schule zur Errichtung einer Föderation, »in der eine Doppelregierung die Geschicke der doppelten Welt des Kapitalismus lenken sollte« (131). In den 1930er- und frühen 1940er-Jahren strebten sie teilweise sogar eine Weltregierung an. Es ging ihnen dabei weniger um ein wirtschaftliches, sondern um ein politisches und juristisches Projekt. Damit sollte der »Wirtschaftsnationalismus« (vor allem in den Ländern des ehemaligen Habsburgerreiches) unterbunden werden, das Habsburgerreich wurde z.B. von Hayek nostalgisch verklärt. »Die Frage war«, so Slobodians Befund zur Genfer Schule, »wie man den Nationalstaat akzeptieren und gleichzeitig unschädlich machen konnte« (138f.) – diese Überlegungen wurden später auf das zerfallende britische Empire angewandt. Der Hauptvorschlag war die Errichtung einer supranationalen Föderation; Mises schlug z.B. 1938 eine Demokratische Union Osteuropa vor. Derartige Föderationen sollten eine »Ent-Planung« (144) möglich machen, um Zölle, Sozial- leistungen und Gleichheitsansprüche abbauen zu können. Zusätzlich wurde auch die Vision eines individuellen Konsumenten geprägt, dessen Souveränität gegen und vorrangig zum politischen Souverän (dem Parlament) in Stellung gebracht wurde.

Kapitel 4 (›Eine Welt der Rechte‹, 175−209) handelt von wirtschaftlichen Rechten, z.B. dem Schutz vor Enteignung und Kapitalkontrollen. Sie wurden von Vertretern der Genfer Schule auch als Gegensatz und Widerspruch zu den Allgemeinen Menschenrechten sowie den Demokratie- und Entwicklungsprogrammen der Vereinten Nationen (1945 gegründet) dargestellt: Den Menschenrechten wurden gleichsam »die Menschenrechte des Kapitals« entgegengesetzt (180).

Die Bemühungen der Genfer Schule in diese Richtung werden von Slobodian in mehreren kaum bekannten Episoden geschildert. So ist es ihren Vertretern z.B. in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre gelungen, die geplante Internationale Handelsorganisation zu verhindern, welche die neuen Institutionen im Bretton-Woods-System (wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank) vervollständigen sollte. Dieses Vorhaben wurde nicht realisiert. Einzelnen Mitgliedern der neoliberalen Gemeinschaft gelang es, Einfluss auf die Internationale Handelskammer auszuüben, die wiederum republikanische Vertreter in den USA überzeugen konnte, das Vorhaben im US- Parlament zu blockieren. Jahre später versandete die Initiative und wurde niemals wiederbelebt.

Ein anderer Versuch fand 1947 statt. (Vermutlich) Heilperin legte im Rahmen der Internationalen Handelskammer einen ersten Entwurf von dem vor, was heute als internationales Investitionsrecht gilt, Slobodian spricht von einer »kapitalistischen Magna Charta«: »Der ausländische Investor sollte mehr Rechte genießen als die Bürger des entsprechenden Staates.« (197) Im Hintergrund stand die Überzeugung der Genfer Schule, »die Herrschaft über ein Territorium sei nicht gleichbedeutend mit dem Eigentum an den Vermögenswerten auf diesem Territorium« (198).

Im Dezember 1952 wurde diese Sichtweise auf der UN- Generalversammlung in der Resolution 626 mit Verweis auf die Charta der Vereinten Nationen abgelehnt. 1959 brachte der Deutsche-
Bank-Chef Hermann Josef Abs die neoliberale Sichtweise wieder ins Spiel. Sie konnte schließlich in Form von bilateralen Verträgen realisiert werden. Die erste derartige Vereinbarung schloss die Bundesrepublik 1959, vertreten durch Ludwig Erhard, mit Pakistan ab. Sie wurde »zum Muster für alle späteren bilateralen Investitionsabkommen« (206) – aktuell hat Deutschland gut 140 solcher Abkommen abgeschlossen.

Im folgenden Kapitel 5 (›Eine Welt der Rassen‹, 211−259) wird beschrieben, wie Neoliberale auf den Prozess der Entkolonialisierung reagiert haben. Sie lehnten jede Theorie ab, die armen Ländern eine eigenständige Entwicklung abgeschottet von den »Wettbewerbskräften der Weltwirtschaft« erlaubt hätte. Eine besondere Rolle spielte die Debatte um das südliche Afrika, in der Röpke offen rassistische Argumente ins Spiel brachte. Er meinte, die Nichtweißen in Südafrika würden einer »völlig anderen Art und Stufe der Zivilisation angehören« (219 und 243), weswegen auch das Apartheid-Regime unterstützt werden müsse. Hayek und andere haben diese Ansichten abgelehnt, zugleich wurden aber auch die Sanktionen gegen Südafrika und Rhodesien verurteilt, sie würden nach Hayek nur eine schädliche ›globalisierte Moral‹ zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig sprachen sich viele Neoliberale dafür aus, in Südafrika kein allgemeines, sondern ein (z.B. nach Vermögen) gewichtetes Wahlrecht einzuführen.

Kapitel 6 (›Eine Welt der Verfassungen‹, 261−310) handelt von der Geschichte der europäischen Integration. Slobodian unterscheidet zwei Gruppen innerhalb der Genfer Schule. Zur Gruppe der »Universalisten« (264) zählen für ihn vor allem Neoliberale der ersten Generation, wie Röpke, Heilperin und der Mises-Schüler Gottfried Haberler, der seit 1936 in Harvard tätig war. Die zweite jüngere Gruppe nennt Slobodian »Konstitutionalisten« (289), hier waren vor allem die deutschen Juristen Hans von Groebner und Ernst-Joachim Mestmäcker bedeutsam. Beiden Gruppen ging es um die Frage, wie universelle Regelungen ›des Marktes‹ geltend gemacht und ausgestaltet werden sollten: (1) auf der globalen Ebene des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens von 1947 (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT), (2) auf der europäischen Ebene, vor allem der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), 1957 durch die Römer Verträge gegründet, oder (3) in einer europäischen ›Integration‹, in die vielleicht auch die Nachfolgeländer der ehemaligen französischen, niederländischen und belgischen Kolonien mit einbezogen werden sollten.

»Die EWG war für die Neoliberalen ein janusköpfiges Gebilde.« (306) Die Universalisten wollten im Kern die alte globale Vision des Völkerbundes revitalisieren und führten die Regelungen des GATT als Argument gegen die EWG ins Feld, insbesondere wurden die EWG- Agrarregeln kritisiert. Die EWG würde eine ›Abschottung‹ Europas gegen die globale Wirtschaft bewirken und zudem die ›atlantische Gemeinschaft‹ mit Großbritannien und den USA stören. Die Konstitutionalisten hingegen fassten die Römer Verträge als eine ›systemgerechte‹ Regulierung auf (meist spricht man von Governance), unter Berufung auf Hayeks Verfassung der Freiheit (Hayek 1971) wurde dies vor allem als juristisches und politisches Projekt verstanden. Es sei gelungen, so argumentierte vor allem Mestmäcker (der in der konkreten Auslegung der Römer Verträge eine wichtige Rolle einnahm), die nationale Souveränität zugunsten einer europäischen Wettbewerbspolitik auszuhöhlen und zugleich (durch den Europäischen Gerichtshof) »die individuelle Freiheit des Bürgers« auch gegen die ei- gene Regierung zu verteidigen – im Zentrum standen die vier Freiheiten des Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs. Mit der EWG hätte sich, so formuliert Slobodian, in den 1960er-Jahren jene Doppelregierung entwickelt, von der Hayek seit den 1930er-Jahren träumte (vgl. 305).

Das Konzept der Konstitutionalisten wurde später auf die globale Ebene ausgeweitet – darin liegt der nachhaltigste Erfolg der Genfer Schule. Dieser Prozess wird im siebten Kapitel (›Eine Welt der Signa- le‹, 311−373) beschrieben. In den 1970er-Jahren – die Kolonialzeit war de facto beendet – gerieten die Neoliberalen in die Defensive, vor allem durch das UNO-Konzept einer Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO) aus dem Jahre 1974.

Die »rechtliche Konterrevolution der Neoliberalen« (345) begann Ende des Jahrzehnts mit einer schrittweisen Reform des GATT, die 1994 zur Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) führte. Die führenden Personen (wie Ian Tumlir, Leiter der GATT-Forschungsabteilung, oder Frieder Roessler, erster Direktor der GATT-Rechtsabteilung) hatten alle am Genfer Hochschulinstitut unterrichtet oder geforscht. Slobodian beschreibt diese GATT-Juristen als »würdige Erben der Genfer Schule des Neoliberalismus« (349). Theoretisch nahmen sie auf Hayeks wichtigstes Marktmodell Bezug, nämlich auf sein Konzept des ›Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren‹, Slobodian beschreibt diesen Ansatz und seine Implikationen sehr detailliert – für mich stellen das die dichtesten Passagen in seinem Buch dar.

In Kurzform lautet dieser Ansatz so (vgl. auch Ötsch 2021): Hayek beschreibt ›den Markt‹ nicht als Ort oder Bereich, an dem knappe Ressourcen verteilt werden (Allokation knapper Ressourcen), sondern als Prozess, der seinen Ausgangspunkt bei den vielfältigen Wissens- beständen von Individuen nimmt (Mirowski/Nik-Khah 2017 sprechen von »informationaler Effizienz«). Die vereinzelten Menschen kommen mit ihrem Wissen ›auf den Markt‹, dieser sammelt und koordiniert es und setzt es in Preise um. Marktpreise gelten als ›Informationsträger‹, die den Menschen sagen, was sie zu tun hätten. ›Der Markt‹ erscheint hier als eine disziplinierende Befehlsinstanz, dem sich die einzelnen zu unterwerfen haben.

Dieser Aspekt wird durch eine spezifische Interpretation der Koordinationsleistung ›des Marktes‹ gesteigert: Hayek spricht ›den Markt‹ wie eine Person an und bezeichnet sein Wissen als »überbewusst«. In Kontrast dazu steht das »Nichtwissen« und die »konstitutionelle Ignoranz« der Menschen – das wird durch eine kognitivistische Theorie des Geistes abgestützt, in der das Unbewusste im Menschen in den Vordergrund gerückt wird (vgl. Hayek 1952). Diese Theorie behauptet, dass es aus Komplexitäts- und Kapazitätsgründen nicht möglich sei, die Marktordnung gedanklich zu durchdringen oder sie zu verstehen (das wird von Hayek als »Anmaßung von Wissen« abgetan).

Die globale Weltwirtschaft erscheint bei Hayek als eine »riesige Informationsverarbeitungsmaschine«, »die der menschliche Verstand jedoch weder verstehen noch nachahmen könne« (322). Demgemäß könne man die globale Wirtschaft nicht zielgerecht (z.B. nach ökologischen Kriterien) steuern, wohl aber könne man – hier liegt nach Slobodian die Kernaussage der Genfer Schule – »die Regeln kennen, die erforderlich sind, um diese Ordnung aufrechterhalten zu können« (384). Die Implikationen dieser Theorie sind bestürzend. In direkter Kritik der Aufklärung werden von Hayek in letzter Konsequenz sogar die Ideen eines autonomen Individuums und eines freien Willens in Frage gestellt (vgl. 329f.).

Nach Slobodian liegt dieser spezifische Ansatz von Hayek dem neoliberalen Modell der Globalisierung zugrunde. Das Ziel war es, »die europäische Idee des neoliberalen Konstitutionalismus von der kontinentalen auf die Weltwirtschaft auszuweiten und die Welthandelsorganisation zur Trägerin einer ›Handelsverfassung‹ zu machen, wobei in der WTO das Streitbeilegungsorgan (Dispute Settlement Body) und das Einspruchsgremium (Appellate Body) als globale Gegenstücke zum Europäischen Gerichtshof dienen würden« (366). Teile dieser Vision wurden schließlich in Form einer abgestuften Governance realisiert: »Indem man die menschlichen Institutionen so justierte, dass sie die Bewegungen der Preissignale möglichst wenig behinderten, konnte die Weltwirtschaft, um die neoliberale Terminologie zu verwenden, in ein Modell der stratifizierten Ordnung verwandelt werden, in dem das Zusammenspiel globaler wie nationaler und regionaler Subsysteme die reibungslose Informationsübertragung erlauben und die Vorhersehbarkeit der wirtschaftlichen Transaktionen gewährleis- ten würde.« (372)

Ein Schlussteil (›Eine Welt der Völker ohne Volk‹, 375−406) rundet das Buch ab. Er verdichtet die Gesamtthese in 15 Basissätzen und beschreibt die Pointe der »doppelten Welt« des »Ordoglobalismus«, den Slobodian seit der Finanzkrise 2008 in einer Krise sieht, so: Man trennt den Raum der Weltwirtschaft von der repräsentativen Demo- kratie, das heißt vom Volk als politischem Körper: »Die Weltwirtschaft ohne Demos war das Ziel. Es war eine Welt der Menschen, aber eine Welt ohne Volk.« (393)

Gesamteinschätzung und Ausblick

Slobodians Buch zeigt, wie sinnvoll ein heuristischer Begriff von Neo- liberalismus zur Beschreibung historischer Prozesse sein kann. Slobodian trägt seine These in einem großen Bogen über 100 Jahre überzeugend vor. Er zeigt, in welch hohem Maße die Neoliberalen von einer Skepsis gegenüber der (Massen-)Demokratie geprägt waren und wie direkt und unmittelbar die Interessen von Kapitaleignern unterstützt wurden. Das Buch ist klar und spannend geschrieben und enthält eine Fülle von Literatur, die Anregungen für ein vertieftes Stu- dium bieten.

An manchen Stellen schießt Slobodian in der Abgrenzung alternativer Deutungen des Neoliberalismus über das Ziel hinaus, z.B. wenn er den »Traum von einem autonomen oder selbstregulierenden Markt« als fälschliche Zuschreibung an den Neoliberalismus abtut. Mises und Hayek z.B. vertreten diese Ansicht in vielen Schriften (im Detail in Ötsch 2019, Kap. 1 und 2). Sie liegt auch dem von ihnen entworfenen Politikprogramm der neoliberalen Gründungsväter zugrunde, das durch Slobodians Analyse selbst bestätigt wird. Vereinfacht soll hier die Politik zweischichtig vorgehen: Sie soll erstens aktiv ›den Markt‹ herstellen (von diesen Bestrebungen handelt Slobodians Buch) und darf zweitens dann, wenn er hergestellt ist, nicht in ihn ›intervenieren‹, d.h. sie muss passiv und duldend verharren. Denn ›er‹ würde so, in seinem ungestörten Tun, automatisch optimale Ergebnisse mit sich bringen. Mirowski spricht diesbezüglich vom Prinzip einer doppelten Wahrheit: eine »esoterische Wahrheit« (Mirowski 2013, 68f.) für die eigene Gruppe (hier geht es um neue Designs für die Wirtschaft) und eine »exoterische« für die breite Masse der Bevölkerung. Hier wird die Möglichkeit jeder Gestaltung der Wirtschaft verneint: ›Es gibt keine Alternative‹, mit anderen Worten: Wir müssten uns bedingungslos ›der Globalisierung‹ unterwerfen.

Aber das sind Randbemerkungen. Viel wichtiger erscheinen mir die vielen Ausblicke, die das Buch eröffnet. Man könnte, so denke ich, viele vorliegende Analysen zum Neoliberalismus mit dem Ansatz von Slobodian verbinden. Denn er kann nur eine wenngleich wichtige Facette zeigen, die mit vielen anderen zusammengedacht werden sollte. Eine entsprechende Liste ist lang. Sie umfasst z.B. die begleitende Entwicklung der ökonomischen Theorie, reale Prozesse der Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung seit den 1980er-Jahren, die Transformation der Politik, die neue Bedeutung der Zentralbanken oder die neoliberale Umformung der früheren staatssozialistischen Länder Europas – plus die vielen Gegenbewegungen zur neoliberalen Durchdringung der Gesellschaft.

Eine umfassende Geschichte des Neoliberalismus, die viele Aspekte systematisch miteinander verbindet, ist noch nicht geschrieben.
Speziell für Diskussionen in Deutschland enthält das Buch viele Denkanstöße. Es beschreibt die deutsche Vorbildwirkung in der theo- retischen Konzeption der Europäischen Integration und ihrer prakti- schen Umsetzung, die dann sowohl in der Theorie als auch in der Installierung der WTO eine Fortsetzung gefunden hat.

Zugleich finden sich im Buch Andeutungen zu einer Geschichte des (deutschen) Ordoliberalismus, wie zu dessen partieller Verstrickung in den Nationalsozialismus, den offenen Rassismus von Röpke oder die breit geteilte Skepsis gegenüber der Demokratie. Diese Aspekte werden heute in der Regel kaum beleuchtet. In den letzten Jahren wird von ordoliberaler Seite eine Neu- oder Umschreibung ihrer eigenen Geschichte, auch in vielen englischen Texten, betrieben, wobei oft ein systematischer Bezug zur Geschichte des Neoliberalismus fehlt (vgl. dazu Ötsch u.a. 2017). In ähnlicher Weise wurde in den letzten Jahren kaum diskutiert, welche Rolle ordoliberale Ökonomen und Ökonominnen bei der Gründung der Alternative für Deutschland gespielt haben. Diese Partei galt ja am Anfang als Professorenpartei, an der vor allem Ordoliberale beteiligt waren.

Literaturverzeichnis

Hayek, Friedrich A. (1952): The Sensory Order. An Inquiry into the Foundations of Theoretical Psychology, Chicago: The University of Chicago Press.
Hayek, Friedrich A. (1971): Die Verfassung der Freiheit, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).
Bröckling, Ulrich (2013): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, 5. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Mirowski, Philip (2013): Never Let a Serious Crisis Go to Waste: How Neoliberalism Survived the Financial Meltdown, London / New York: Verso.
Mirowski, Philip (2014): The Political Movement that Dared not Speak its own Name: The Neoliberal Thought Collective Under Erasure, Institute for New Economic Thinking Working Papers 23.
Mirowski, Philip / Nik-Khah, Edward (2017): The Knowledge We Have Lost in Information. The History of Information in Modern Economics, New York: Oxford University Press.
Ötsch, Walter Otto (2019): Mythos Markt. Mythos Neoklassik. Das Elend des Marktfundamentalismus, Marburg: Metropolis.
Ötsch, Walter Otto (2021): »Wissen, Selbstwissen und Nichtwissen der marktfundamentalen Ökonomie. Hayeks Marktbegriff und die ökonomisierte Gesellschaft«, in: Ders./Steffestun, Theresa (Hg.): Wissen und Nichtwissen der ökonomisierten Gesellschaft. Beiträge zu einer neuen Politischen Ökonomie, Marburg: Metropolis, 85–131. In modifizierter Form online als Working Paper 66 der Institute für Öko- nomie und Philosophie an der Cusanus Hochschule für Gesell- schaftsgestaltung (https://www.cusanus-hochschule.de/forschung/ working-paper-series/).
Ötsch, Walter Otto / Pühringer, Stephan / Hirte, Katrin (2017): Netzwerke des Marktes. Ordoliberalismus als Politische Ökonomie, Wiesbaden: Springer VS.
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