by  Walter O. Ötsch

Juni 22, 2025

Tagung: Von der Krise der ökonomischen Wissenschaft zur Krise des politischen Denkens?

Das neoliberale Wirtschaftsdenken als Ausdruck des Niedergangs wissenschaftlicher Kategorienbildung und Bedrohung der politischen Urteilskraft

Do., 11.9. (14h) - Sa., 13.9. (14h) 2025

Hochschule für Gesellschaftsgestaltung Koblenz

Weiter unten:  Der ursprüngliche Call, Zum DL als pdf: Abstracts der Vorträge und  der Hintergrund zur Tagung: ein Buchprojekt

Do., 11.9. 2025

 ab 13:30h: Eintreffen bei Kaffee
14:00-14:30h: Eröffnung u Rahmung der Tagung
14:30-15:30: Session 1: Walter Ötsch (Hochschule für Gesellschaftsgestaltung Koblenz): Neoliberalismus als nichtwissenschaftlicher Ansatz? Besonderheiten des Marktbegriffes von Hayek 
15:30-16:00: Kaffeepause
16:00-17:00: Session 2: Patrick Makal (Uni Paderborn): Cassirers Philosophie als aufklärerische Programmatik in politischer Absicht
17:00-18:00: Session 3: Davor Löffler (Berlin): Kulturevolutionäre Prinzipien und Muster in der Wirtschaftsgeschichte und der Entwicklung der Wirtschaftstheorie. Jenseits der Orthodox-Heterodox-Dichotomie
19:00: Gemeinsames Abendessen

Fr., 12.9. 2025

9:00-10:00h: Session 4: Sebastian Luft (Uni Paderborn): Cassirers Kulturphilosophie als Theorie der Gesellschaft
10-10:30h: Kaffeepause
10:30-11:30h: Session 5: Gerhard Stapelfeldt (Hamburg): Neoliberale Weltordnung: Genese, Dogmen, Widersprüche, konformistische und dialektische Kritik
11.30-12:30h: Session 6: Andreas Langenohl (Uni Gießen): Die Mikrophysik der Macht im neoliberalen Denken
12:30-14:00h: Mittagspause
14:00-15:00h: Session 7: Birger Priddat (Uni Witten-Herdecke): Deal making. Über die politische Ökonomie des Trump-Regimes
15:00-15:30h: Kaffeepause
15:30-16:30h: Session 8: Steffen Gross (Technische Universität Cottbus – Senftenberg): Begriffsbildung als gestaltendes Tun. Zum Nexus von ökonomischer Theorie und der Praxis des wirtschaftspolitischen Entscheidungshandelns
16:30-17:00h: Session 9: Othmar Fett (Hannover): Denkform Sozialform Tertiärität. Substantialismus und Relationalismus in sozialevolutionärer Perspektive

Sa, 13.9. 2025

9:00-10:00h: Session 10: Jannis Köster (Lüneburg): Profit revisited: Zur Notwendigkeit einer ideengeschichtlichen Aktualisierung der Profittheorie
10:00-10:30h: Kaffeepause
10:30-11:30h: Session 11: Adelheid Biesecker (Uni Bremen): Die Kategorie Produktivität als Ausdruck der Ausblendung der lebensweltlichen und natürlichen Produktivitäten durch die Ökonomik und somit als auf Zerstörung des Lebendigen ausgerichtete politische Leitlinie
11.30-12:30h: Session 12: Julian Böker (Bremen): Was ist antiökologisch am Neoliberalismus?
12:30-14:00h: Abschlussdiskussion           



Der ursprüngliche Call for Papers

Wissenschaft ist ein hohes Gut für moderne Gesellschaften. Anhand von wissenschaftlichen Theorien erschließen wir uns Phänomene der Natur, der Kultur sowie der Gesellschaft. Indem wir die Zusammenhänge, in denen Phänomene erscheinen, anhand von Begriffen und Theoremen systematisch nachvollziehen und in Theorien beschreiben, gelangen wir zu Erklärungen über die uns vorstellige phänomenale Welt. Dieser Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis und das in ihm produzierte Wissen prägen unsere Vorstellung von Wirklichkeit. Wir berufen uns auf die wissenschaftliche Erkenntnis und das theoretisch-begründete Wissen, um die Natur zu beherrschen, die Kultur zu verstehen, und nicht zuletzt, um die Gesellschaft politisch zu gestalten.

Wenn wir von ›modernen‹ ›demokratischen‹ Gesellschaften sprechen, dann referieren wir implizit auf die Errungenschaften der Aufklärung. Als epochaler Emanzipationsprozess von geistigem Dogmatismus und weltlicher Despotie ist sie konstitutiver Teil unseres kulturhistorischen Bewusstseins. Mit Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und soziokulturellen Entwicklungen scheint ein von der Aufklärung geprägtes Selbstverständnis von Wissenschaft und Gesellschaft jedoch noch fragwürdiger geworden zu sein als es dies bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts war. Die fortschreitende Verschleppung klimapolitischer Maßnahmen, die Erstarkung faschistischer und rechtsextremer Parteien weltweit sowie eine welthistorisch bedeutsame globale ökonomische Ungleichheit sind nur einige Beispiele, in denen die Gefahr gesellschaftlicher Irrationalitätsentwicklungen Ausdruck findet.

Die empirische Realität ist konstitutives Moment jedweder seriöser Wissenschaft. Doch ein Blick in die Geschichte der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung zeigt, dass mit der sogenannten Neoklassik die empirische Wirklichkeit, d.h. das Soziale in seiner gesamten Komplexität, zugunsten einer ›reinen‹ Konzeption von Wirtschaft vom phänomenalen Gegenstandsbereich der ökonomischen Theoriebildung systematisch ausgeschlossen wurde. Die neoklassische Theoriebildung bereitete auch den Boden für eine irrationale Durchdringung der Wirtschaftstheorie, die heute als Neoliberalismus bekannt ist. Dass Theoriekonzeptionen wie die von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek wissenschaftlich ernstgenommen wurden und sich performativ gesellschaftsgestaltend durchsetzen konnten, stellt ein bemerkenswertes Faktum für die Wissenschaftsgeschichte dar. Denn die von ihnen praktizierte und propagierte Form der Begriffs- und Theoriebildung ist Ausdruck eines fundamentalen Regresses der wissenschaftlichen Rationalität auf das Niveau substanzlogischen und mythischen Denkens im Bereich der Ökonomik. Dieses Denken kann entlang der gängigen Mittel der Wissenschaftskritik kaum nachvollzogen werden, weil wir mithilfe dieser das Irrationale von Begriffen lediglich konstatieren, nicht aber theoretisieren können; ›Wissenschaftlichkeit‹ ist kein quantitatives und graduelles, sondern ein qualitatives und definitorisches Prädikat. Hieraus erwächst ein Problem für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften, weil sich im wichtigen gesellschaftlichen Teilbereich der Ökonomik eine Gegenaufklärung vollzogen hat.

Vergegenwärtigt wir uns den Einfluss des neoliberalen ökonomischen Denkens vor allem seit den 1970er Jahren, die Materialisierung dessen Ideengehalts in zentralen nationalstaatlichen wie global agierenden Institutionen sowie die dogmatische Stellung in der universitären Ausbildung und Politikgestaltung (in der ein faktischer Schulterschluss neoklassischer und neoliberaler Theorieelemente vollzogen wurde), dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der mythische Gehalt der neoliberalen Begriffsbildung zu einem Denk- und Gestaltungsprinzip der Wirklichkeit geworden ist. Insbesondere liberale, konservative und rechtsextreme Parteien reproduzieren in ihren Programmatiken neoliberale substanzlogische Konzepte wie ›den Markt‹ oder den ›homo oeconomicus‹. Beide entziehen sich jedweder Realitätsprüfung, finden jedoch als Realitätsprinzipien des politischen Denkens konkret Anwendung in der politischen Gestaltung des Gemeinwesens. Damit ist der politischen Urteilskraft ein Wirklichkeits- und Gestaltungsverständnis auferlegt, dass das politisch Denkbare von vornherein, gleich einem Apriori im kantischen Sinne, formbestimmt. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisen erscheinen somit als Ausdrucksphänomene jener kategorialen Formbestimmungen, die von den Ideengebern des Neoliberalismus explizit gegen die demokratische Gestaltung der sozioökonomischen Verhältnisse konzipiert worden sind.

Im Rahmen der Tagung wollen wir die hier formulierten Thesen diskutieren und kritisch hinterfragen. Die Tagung richtet sich an Personen aus den Bereichen der Ökonomie, der Philosophie, den Geschichts- und Politikwissenschaften sowie dem breiteren Feld der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften. Wir streben an, einen transzdisziplinären Diskurs zu initiieren, und beabsichtigen, Erkenntnisse aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern sinnvoll aufeinander zu beziehen. Eine Publikation der Tagungsbeträge in einem Sammelband ist vorgesehen.

Inhaltlich sind wir an einem breiten Set von Fragen interessiert:

  • Nach welchen Kriterien könnte eine Krise der Wissenschaftlichkeit von ökonomischen Theorien behauptet werden?
  • Was bedeutet es, von Mythen der Ökonomik zu sprechen? Was unterscheidet sie von Ideologien und wie können sie nachgewiesen werden?
  • Wie stellt sich im Bereich der Ökonomik der Zusammenhang von Neoklassik und Neoliberalismus dar? Welche Bedeutung kommt dem Sozialen im Hinblick auf das Prädikat der Wissenschaftlichkeit zu?
  • Welche Herausforderung stellt das Phänomen eines Regresses wissenschaftlicher Rationalität für die Wissenschaftstheorie und -geschichte dar? Wie kann es wissenschaftlich aufgearbeitet und erklärt werden
  • Welche Bedeutung kommt der Philosophie und Erkenntniskritik, den Kultur- und Politikwissenschaften sowie der Gesellschaftstheorie für eine kritische Aufarbeitung der hier behaupteten Entwicklung zu?
  • Was lässt sich aus der Geschichte vergleichbarer substanzlogischer Rationalitätsregressionen (z. B. Sozialdarwinismus) für die gegenwärtige Situation lernen? Welche begriffskategorialen Parallelen gibt es? Wie wurden diese in den Bereich der Politik überführt? Wie wirkten sie gesellschaftsgestaltend?
  • Gibt es einen strukturellen Zusammenhang zwischen substanzlogischer bzw. mythischer Begriffs- und Theoriebildung und dem Phänomen des Populismus?
  • Wie kann das Irrationale in der Theoriebildung und Politikgestaltung analytisch auf den Begriff gebracht werden?
  • Welche praktischen Folgerungen ergeben sich aus der kritisch-theoretischen Reflexion für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisenphänomene? Wie kann ihnen konkret begegnet werden?

Die Veranstalter:  Walter O. Ötsch; Oliver Schlaudt und Patrick Makal.


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