by  Walter O. Ötsch

September 15, 2024

Im Jahre 2021 habe ich mit Nina Horaczek das Buch  Wir wollen unserer Zukunft zurück! Streitschrift für mehr Phantasie in der Politik verfasst. Darin haben wir die Phantasielosigkeit der Politik beschrieben und analysiert. Auf den Seiten 146-151 haben wir die Stadtgemeinde Traiskirchen unter dem Bürgermeister Andreas Babler (der mir damals noch nicht bekannt war) als Beispiel für eine zukunftsgerichtete Politik beschrieben. Hier der Auszug:

Exkurs: Die bessere Zukunft im Kleinen

Oft ist es die kommunale Ebene, auf der Transformationen vielfach von einer größeren Öffentlichkeit unbemerkt, aber dafür umso effizienter und zukunftsgerichteter stattfinden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kleinstadt Traiskirchen, eine knapp 20000 Einwohner-Gemeinde etwa 20 Kilometer südlich von Wien. Die Weinbauernstadt Traiskirchen ist nicht nur für ihre sonnigen Weinhänge bekannt, sondern österreichweit vor allem als Hotspot in der Asyldebatte. In Traiskirchen steht seit Jahrzehnten Österreichs größtes Asylzentrum. In Hochzeiten wie etwa dem Jahr 2015, als hunderttausende Menschen von Syrien, dem Irak, Afghanistan und weiteren Krisen- und Konfliktländern nach Europa flüchteten, waren in der Kleinstadt bis zu 4000 Asylbewerberinnen und Asylbewerber in einem Großlager und in Zelten untergebracht. Auch in weniger turbulenten Zeiten ist Traiskirchen meist die allererste Station für Geflüchtete, die nach Österreich kommen.

Doch obwohl die Bürgerinnen und Bürger von Traiskirchen das Konfliktthema Asyl jeden Tag hautnah vor ihrer eigenen Tür erleben, gelang es den Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten der Freiheitlichen Partei (FPÖ) in Österreich, dem Pendant zur deutschen AfD, nie so richtig, in der Kleinstadt Fuß zu fassen. Und das, obwohl der früheren Arbeiterstadt Traiskirchen in den vergangenen Jahrzehnten auch die Industrie abhandengekommen ist. Das im Jahr 1867 in Traiskirchen eröffnete Werk des Reifenproduzenten Semperit, einst großer Stolz der Stadt, wurde 2002 geschlossen, weil das Unternehmen seine Reifen damals im Nachbarland Tschechien billiger produzieren konnte. »Im Zuge der Neustrukturierung des Reifen-Multis soll die Hälfte der Produktion in Billiglohnländer verlegt werden«, schrieb die österreichische Wochenzeitung Falter damals. Die Schließung dieser Fabrik kostete Traiskirchen mehr als tausend Arbeitsplätze. Trotzdem gelang es der Stadt durch geschickte Transformation, Lösungen zu finden.

Das liegt nicht zuletzt an der Kommunalpolitik in der Stadt, die sich noch traut, in Utopien zu denken und sich Schritt für Schritt so zu verändern, dass den Bewohnerinnen und Bewohnern ein besseres Leben ermöglicht wird. Sein Ziel sei, Traiskirchen als Sozialstadt, als Kinderstadt und als Ökologiestadt zu positionieren, erklärt Traiskirchens Bürgermeister Andreas Babler. Sehr viel von dem, was sich die Politikerinnen und Politiker zur Transformation ihrer Kommune in eine Stadt der Zukunft ausdenken, kommt schon jetzt direkt bei den Bürgerinnen und Bürgern an. Hier einige Beispiele aus Traiskirchen:

Für Familien

■ In Traiskirchen bekommen Eltern für ihr Baby zur Geburt einen Rucksack mit Erstlingsausstattung als Geschenk zur Geburt, den Vertreterinnen oder Vertreter der Gemeinde persönlich vorbei- bringen.
■ Jedes Jahr im Oktober wird in jedem der fünf Stadtteile jeweils ein Baum als »Lebensbaum« für die in diesem Jahr neugeborenen Traiskirchnerinnen und Traiskirchner gepflanzt.
■ Traiskirchen hat einen »Kinderstadtplan« erarbeitet, mit dem Kinder die Stadt selbst entdecken können. Darin sind alle Spielplätze, die wichtigsten Einrichtungen der Stadt eingezeichnet und für Kinder erklärt, aber auch die besten Plätze zum Plantschen am Wasser, zum Drachensteigen und die besten Radrouten für Kinder.
■ In den Semester- und Osterferien gibt es eine stark vergünstigte »Ferien zu Hause«-Aktion, bei der Kinder zwischen 5 und 11 Jahren in von der Stadt organisierten Feriencamps betreut werden.
■ In den Sommerferien bietet die Stadt Ferienprogramme für Kinder von 5 bis 13 Jahre an, bei denen die Kinder betreut werden, damit die Eltern auch in der schulfreien Zeit arbeiten gehen können, ohne die Kinder für teure Ferienkurse anmelden zu müssen.
■ Gleich zu Beginn der Coronapandemie beschloss Traiskirchen Maßnahmen, um die Sicherheit der Kinder in Kindergärten und Schulen sowie auch der Pädagoginnen und Pädagogen zu gewährleisten: Schon im März 2020 begann die Stadt, Freiluftklassen für Schulen zu bauen. Mittlerweile sind alle Grundschulen in Traiskirchen mit aus Massivholz gebauten Outdoor-Klassenzimmern ausgestattet.
■ Traiskirchner Schulkinder erhalten nicht nur die Schulbücher, sondern auch sämtliche Schulhefte kostenlos.
■ Für die Kinder der Stadt gibt es nun eigene naturnahe Spielplätze. Dafür finden im Kindergarten Wahlen statt. Die Wahlkarten sind Bauklötzchen, mit denen die Kinder abstimmen, welche Spielgeräte auf die Spielplätze kommen.
■ Junge Menschen, die Präsenzdienst, Zivildienst oder ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren, erhalten von der Gemeinde einen Anerkennungsbeitrag von 100 Euro.

Soziales und Integration

■ In Traiskirchen gibt es einen Sozialmarkt, in dem Einwohnerinnen und Einwohner, die arbeitslos sind und nur sehr wenig verdienen oder eine Mindestpension erhalten, stark vergünstigte Lebensmittel einkaufen können. Anderswo sind solche Sozialmärkte oft in ehemaligen Fabrikhallen, dunklen Kellergeschäften oder anderen wenig ansprechenden Orten und die Lebensmittel sind in Kisten gestapelt. In Traiskirchen ist der Sozialmarkt ein fröhlicher Ort mit hellem Holz und sieht so schick aus, dass er mit jedem makrobiotischen Soja-Latte-Shop im schicken Berliner Prenzlauer Berg leicht mithalten kann. Direkt an den Sozialmarkt, der in Traiskirchen der Gute Laden heißt, ist ein kleines Café angeschlossen. Dort plaudern ältere Damen bei Kaffee und Biskuitroulade. So gelingt es der Stadt, dass der Gang in den Sozialmarkt nicht stigmatisierend ist. Man geht in den Guten Laden, um etwas zu trinken oder eine Mehlspeise zu essen. Und manch einer der Besucher schnappt sich eben einen Einkaufskorb und kauft sich von seinem oder ihrem niedrigen Einkommen eben extra vergünstigte Waren. Zusätzlich bekommen die Einkäuferinnen und Einkäufer auch kostenlos Biogemüse, das in der Stadt angebaut wurde. Die Botschaft des Guten Ladens im Zentrum von Traiskirchen ist klar: Wer arm ist, soll sich dafür nicht schämen müssen.
■ Das frische Biogemüse für den Sozialmarkt kommt vom Garten der Begegnung gleich hinter dem großen Flüchtlingslager mit- ten in der Stadt. Dort hat die Kommune der Öffentlichkeit einen Hektar Land zur Verfügung gestellt, auf dem seit einigen Jahren Asylbewerberinnen und Asylbewerber gemeinsam mit der Traiskirchner Bevölkerung Obst und Gemüse anbauen können. Anfangs reagierten die Traiskirchnerinnen und Traiskirchner ziemlich skeptisch auf dieses Projekt mit Geflüchteten. Deshalb führten die Initiatorinnen und Initiatoren einen »Orientalischen Brunch« ein, der jeden Samstag im Garten stattfindet. Dieses samstägliche Frühstück ist mittlerweile so begehrt, dass man sich seine Plätze reservieren muss. Zwei Mal pro Woche können sich die Traiskirchnerinnen und Traiskirchner am »Markttag« das Bio- Obst und -Gemüse gegen eine freie Spende im Garten kaufen. Der Rest geht, zum Teil eingekocht, an den Guten Laden.
■ Neben den Asylwerberinnen und Asylbewerbern haben auch Traiskirchner Kindergärten, Schulklassen sowie Demenzerkrankte im Garten der Begegnung ihre Gemüsebeete. Die Kinder lernen so den Kreislauf der Natur kennen und erleben hautnah, wie ökologischer Landbau funktioniert. Für die Menschen, die an Demenz erkrankt sind, ist der Kontakt mit der Natur eine wich- tige Unterstützung in der Therapie. Seit einigen Jahren zieht der Garten der Begegnung gemeinsam mit Jugendlichen aus einem sozialökologischen Projekt zur Integration in den Arbeitsmarkt tausende Gemüsepflänzchen, die an die Traiskirchnerinnen und Traiskirchner zu Beginn der Gartensaison verkauft werden. Und in einer eigenen Nähwerkstatt des Gartens können Asylbewerberinnen mit Unterstützung ihre oft aus Spenden bestehende Kleidung ihren persönlichen Bedürfnissen anpassen oder sich selbst ein neues Teil nähen.
■ Zu Beginn der Pandemie verschenkte die Kommune kostenlose Masken an alle Bewohnerinnen und Bewohner der Gemeinde. Genäht wurden diese Masken von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern vor Ort.
■ Ein eigenes Ehrenamtsteam ist für jene Menschen in der Stadt da, die Unterstützung benötigen, sei es als Begleitung zu Arzt- besuchen, Spaziergängen oder Amtsgeschäften oder auch einfach als Gesellschaft beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen, als Vorlesende. Das Ehrenamtsteam bietet auch monatlich ein Aktiv-Café mit wechselnden Thementagen für die ältere Generation in der Stadt an.
■ Um während des ersten Corona-Lockdowns die Einsamkeit der älteren, alleinstehenden Bewohnerinnen und Bewohner zu lindern, entstand in Traiskirchen ein Freiwilligennetz, das regelmäßig Telefonkontakte zu den Älteren hielt und mit etwas Plauderei die Einsamkeit erträglicher machte. Manche dieser »Telefonfreundschaften« hielten auch nach dem Ende der Lockdowns weiter.

Ökologie und Umweltschutz

■ Die ehemalige Industriestadt, in der früher die Semperit-Reifen vom Fließband rollten, hat vor einigen Jahren mit der Universität für Bodenkultur ein Landschaftsentwicklungskonzept erstellt. Seitdem werden im gesamten Stadtgebiet alte Obstsorten gepflanzt, für die Bürger eine Patenschaft übernehmen können. So können sich die Traiskirchnerinnen und Traiskirchner selbst mit frischem Obst versorgen und tragen dazu bei, dass alte, beinahe ausgestorbene Obstsorten wieder ihren Platz finden. Die Konditorei neben dem Hauptplatz, hat gleich zehn Obstbäume gepachtet und verwendet die Früchte für ihre Kuchen.
■ Unter wissenschaftlicher Begleitung renaturierte die Stadt verschiedene Flussgewässer, die an Traiskirchen vorbeiführen, wodurch seltene Tiere und Pflanzen, wie die Mandarinente, Smaragdeidechse und auch Feuchtwiesen-Prachtnelke oder das Sumpf-Blaugras wieder einen natürlichen Lebensraum haben.
■ Seit dem Jahr 2014 verzichtet Traiskirchen ganz bewusst auf den Einsatz von Glyphosat bei der Unkrautbekämpfung in Parks und im Stadtgebiet.
■ Um die ursprünglichen Heidelandschaften zu rekultivieren, hat die Gemeinde einen eigenen Stadtschäfer engagiert. Dessen Kamerunschafe werden als natürliche Rasenmäher eingesetzt.
Die Stadt kümmert sich selbst um ihre etwa 3000 Blumenbeete und Grünstreifen. Dafür hat Traiskirchen zusätzlich eine Gärtnerei gekauft. Dadurch, dass sie nun die Setzlinge für die Blumenbeete selbst im Glashaus ziehen, werden Kosten gespart und Arbeitsplätze geschaffen.

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