by  Walter O. Ötsch

Dezember 15, 2025

Warum es Sinn macht, von Neoliberalismus zu sprechen


Rede anlässlich der Feier zum 15jährigen Bestehen des Instituts für die Gesamtanalyse der Wirtschaft (ICAE) an der Johannes Kepler Universität Linz

12.12.2025

Vielen Dank für Ihr Kommen und danke an alle, die diese Veranstaltung organisiert haben.

Am 5. Februar 2009 wurde ich vom damaligen Finanzstadtrat Johann Mayr in das Linzer Rathaus gebeten. Anwesend war auch Jakob Huber, den ich bei seinem Studium begleiten durfte. Bei diesem Treffen wurde zweierlei geäußert. Erstens: es sei erstaunlich, dass das Institut für Volkswirtschaftslehre so wenig zur Finanzkrise 2008 gesagt habe und zweitens, dass man ein Institut für die Erforschung der Finanzkrise gründen wolle.

Der erste Aussage teilte ich. Ich hatte mich seit der Subprimekrise im Spätsommer 2007 mit einer möglichen großen Finanzkrise beschäftigt, im September 2008 veranstaltete ich genau am Höhepunkt der Krise eine Diskussion mit Stephan Schulmeister. Mir war klar, dass die neoklassisch orientierte Wirtschaftstheorie mit ihrer Fokussierung auf sich selbst räumende Märkte eine Finanzkrise nicht nur nicht erklären konnte, sondern im Vorhinein auch nicht für möglich erachtet hatte.
Sie verfügte nicht einmal über einen Begriff von Krise, zumindest nicht als einer systemischen Krise. Ein Institut zur Erforschung der Krise zu errichten begrüßte ich.

Als ich dann fragte, wer ein solches Institut leiten sollten, sagten die beiden: ich solle das tun. Das überraschte mich, nach kurzem Zögern sagte ich zu. So kam ich auf ungewöhnliche Weise zu einem zweiten Institut, ein erstes leitete ich schon. Ich habe das ICAE gestartet, ohne eine schriftliche Programmatik oder einen Forschungsplan vorzulegen – im Wissenschaftsbetrieb ist das fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Aber es gab einen Standpunkt, ein Vorwissen, eine Haltung. Und ich freue mich, dass dieser Standpunkt über 15 Jahre hindurch über viele Schwierigkeiten hinweg weiterentwickelt wurde, immer noch präsent ist und derartige Erfolge mit sich bringt.

Das Institut wurde mit dem zweifachen Denkrahmen gestartet, dass es sowohl eine kritische Außenbetrachtung der ökonomischen Theorie in ihrem Mainstream als auch eine kritische Außenbetrachtung des Wirtschaftssystems geben müsse. Denn die ökonomische Theorie, wie sie sich immer noch in den führenden Lehrbüchern manifestiert, hat – im Unterschied zu anderen Sozialwissenschaften - kein Werkzeug zu ihrer Selbsterforschung entwickelt. Und sie besitzt immer noch über kein oder zu wenig Bewusstsein über die Wirkungen des eigenen Denkens und der eigenen Praktiken auf Wirtschaft und Gesellschaft.

Und zweitens kann eine Krise, wie die von 2008, die das Finanzsystem fast zum Einsturz gebracht hat, nur in einer Gesamtbetrachtung des Wirtschaftssystems analysiert werden, dazu braucht es eine Vorstellung über den Kapitalismus der damaligen Zeit, auch in seiner historischen Gewordenheit.

Für diese beiden Aspekte haben wir den Begriff Neoliberalismus als brauchbar erachtet. Ihn hat damals auch Kurt Rothschild verwendet – und anfangs wollten wir das Institut auch Kurt-Rothschild-Zentrum nennen. Aber Rothschild hat mir damals gesagt, so lange er noch lebt, wolle er kein Institut, das nach seinem Namen benannt sei.

Neoliberalismus ist ein schillernder Begriff, man kann ihn präzise fassen. Der Begriff ist auch heute noch brauchbar, weil er heuristisch ein »Außen« zur aktuellen Wirtschaft, ein »Außen« zu gängigen Politikformen und ein »Außen« zu dominanten ökonomischen Denkweisen zu vermitteln versucht. Um 2008 war der Neoliberalismus im deutschsprachigen Raum als Netzwerk von Think-Tanks erforscht, und an diese Forschung hatten wir angeknüpft: als 2. Person habe ich Jürgen Nordmann angestellt, damals mit einem Buch über die Mont Pèlerin Gesellschaft bekannt. Die erste Person, die eingestellt wurde, war Katrin Hirte, eine Soziologin. Ganz am Anfang keine Ökonom:innen einzustellen, war eine bewusste Entscheidung: Im ersten Schritt wurde versucht, die Ökonomie und das Wirtschaftssystem »von außen« zu verstehen, dafür einen Analyserahmen zu schaffen und erst dann sollten Detailaspekte mithilfe von ausgebildeten Ökonom:innen erkundet werden.
In diesem Rahmen wurde Methoden und Erkenntnisse aktiviert und erlernt, die von anderen Wissenschaften stammten, wie die Diskurs- und Metaphernanalyse, die Wissenschafts- und Wissenssoziologie, die Medien- und Wirtschaftsgeschichte sowie die Netzwerkforschung, später auch die Bibliometrie. Und diese Methoden wurden kreativ kombiniert und auf ökonomische Themen bezogen.

Es macht Freude zu sehen, wie kraftvoll dieser Rahmen über die Jahre hinweg ausgebaut wurde und wie tragfähig er immer noch ist.

Ich erlaube mir auf eine einzige Studie aus der Anfangsphase hinzuweisen, die erst 2017 als Netzwerke des Marktes. Ordoliberalismus als Politische Ökonomie publiziert wurde. Darin wurden kombiniert: eine Konzeptualisierung des Neoliberalismus, Aspekte der deutschen Wirtschafts-, Politik- und Wissenschaftsgeschichte, bibliometrische Verfahren sowie detaillierte Analysen personaler und institutioneller Netzwerke, basierend auf einer selbst erstellten Datenbank aller Ökonomieprofessor:innen an Deutschlands Universitäten, ab dem Jahre 1952. Dieser Ansatz diente dazu, eine Skizze zu einer Geschichte des deutschen Ordoliberalismus (den wir als Sonderform des Neoliberalismus interpretierten) zu entwerfen.

Wir wollten z.B. wissen, wie es den Ordoliberalen in Deutschland nach 1945 gelungen ist, ihr Konzept politisch durchzusetzen - bis hin zur Gründung der AfD im Jahre 2013. Sie wurde ja anfangs als Professorenpartei tituliert, es ging ums ordoliberale Professoren - ein bezeichnendes Beispiel für gesellschaftliche Wirkungen von Ökonom:innen. Der dabei sich manifestierende neoliberale Denkstil, der auf politische Wirkungen aus ist, bleibt weitgehend unbenannt. Namenlos kann er sich weiter performieren.

Eine weitere Frage, die uns am Anfang beschäftigte, war: Welche Theorie der Gesellschaft benötigen wir, um den Neoliberalismus in seinen gesellschaftsverändernden Aspekten verstehen zu können? Wir haben uns oftmals in der Garage bei mir zu Hause im Garten getroffen, um bestehende Gesellschaftstheorien zu erkunden. Z.B. zu fragen: Brauchen wir eine Vorstellung von Gesellschaft als Ansammlung abstrakter Strukturen und ihrer Beziehungen oder als Ensemble lebendiger Praktiken und Prozesse? 

Sehr viel später wurde mir und anderen bewusst, wie schief diese Fragen selbst angelegt waren und dass sie beantwortet werden können. In hohem Maße sind sie durch die vielen Projekte am Institut beantwortet. Sie entwerfen ein facettenreiches Bild, wie ökonomische Denkweisen mit realen Strukturen interagieren, welche Dynamiken Wirtschaft und Gesellschaft aufweisen, auch im Feld der Ökonomik, und was auf welche Weise anders gemacht werden sollte – und all dies für breite Politikbereiche. Zumindest implizit wurde und wird in diesen Studien ein umfangreiches Bild einer ökonomisierten Gesellschaft entworfen, die neoliberalen Vorgaben genügt, und für viele Felder vorgeschlagen, was anders ablaufen könnte und sollte. 

Am Anfang hatten wir viele Pläne. Wir wollten eine gute akademische Forschungsstätte werden. Wir wollten mit vielen zusammenarbeiten. U.a. wurde auch eine Kooperation mit der Arbeiterkammer Wien angebahnt und dann nach 2015 von Jakob Kapeller und Stephan Pühringer realisiert. Wir wollten auch - in Zusammenarbeit mit der Arbeiterkammer Oberösterreich, die uns am Anfang mitfinanzierte – Wissen für die Zivilgesellschaft in der Region bereitstellen. Dazu dienten die jährlichen Sommerakademien, bei der wir mit gut 10 Organisationen zusammenarbeiteten. Ursprünglich wollten wir auch ein Think Tank mit medialem Einfluss werden – das gelang in der Anfangszeit nur beschränkt, ich selbst war damals auch mit sozialen Medien nicht vertraut. Gelungen sind damals die Forschungsprojekte und gelungen sind viele Kooperationen mit Wissenschaftler:innen bei den jährlichen wissenschaftlichen Tagungen, dazu gibt es eine Reihe im Verlag Metropolis mit bisher 16 Bänden.

Die Kontakte zu Medien, zur Zivilgesellschaft und zur Wissenschaft wurde später von meinen Nachfolgern auf neue Art kräftig ausgebaut. Eines will ich herausstellen: Jakob ist, wie viele wissen, der Editor des Heterodox Economic Newsletters. Das Institut ist damit direkt mit dem globalen Knoten kritischer Ansätze in der Ökonomie vernetzt – ein beeindruckender Zusammenhang.

Am Schluss will noch einen letzten Aspekt ansprechen, der viele bewegt. Nämlich: wie das neoliberale Denken, sein Denkstil, die Demokratie untergräbt. Die politische Ordnungsidee des Neoliberalismus steht in kategorialem Widerspruch zum Fortbestehen der Demokratie. Das wurde in Mythos Markt gezeigt und kann aktuell wie in einem Brennglas in den USA studiert werden. 

Der Neoliberalismus kritisiert nicht nur die Konzepte von Demokratie und Menschenrechte, die in der Aufklärung entwickelt wurden. Er propagiert eine antiwissenschaftliche Denkform, die als Mythos die Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens in Frage stellt. Er will in die Vergangenheit voranschreiten: als Denksystem in die historische Frühform des Mythos. Der neoliberale Mythos »des Marktes« geht heute mit rechtsextremen Mythen »des Volkes« eine Synthese ein, letztere fussen im Kern stets auf Verschwörungserzählungen. In diesem Amalgam von Mythen verschwinden alle absoluten Werte, auch die der Menschen auf ihr eigenes Leben und auf eine lebenswerte Umwelt. Absolut ist nur »der Markt«, eine übermenschliche Quasi-Gottheit, der »wir« gehorchen und der die Politik folgen soll. 

Um es klar zu sagen: Solange die neoliberale Denkform derart dominant bleibt, wie sie immer noch ist, wird es keine Lösungen für die schwerwiegenden Krisen der Umwelt geben.

Diese Zusammenhänge zeigen, wie wichtig ein Institut wie das ICAE mittlerweile geworden ist - nicht nur für uns und nicht nur für die, die hier beschäftigt sind, – sondern für alle, denen die Bewahrung der Demokratie ein Anliegen ist und die hoffen, dass eine Abhilfe der drohenden Krisen der Umwelt noch möglich sein kann.

In diesem Sinne freue ich mich auf die nächste Feier in 15 Jahren! 


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