by  Walter O. Ötsch

Januar 5, 2025

Orbánisierung in Österreich?  

Parallelen und Unterschiede zu Ungarn. 

Ellen Bos & Walter O. Ötsch. 

erscheint in INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 2024-3/4, S. 227–237. 

Ellen Bos (*1960) ist Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa in der EU an der Andrássy Universität Budapest.  

[formuliert am 25.10.2024] [pdf des Aufsatzes]. 


Bei der Nationalratswahl am 29. September 2024 wurde die rechtsextreme Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) mit 28,8 Prozent der abgegebenen Stimmen zur stärksten Partei im österreichischen Parlament. Den zweiten Platz errang mit 26,3 Prozent die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP), die in den vergangenen Jahren weit nach rechts gerückt ist. Nach den beiden bisherigen Koalitionen zwischen ÖVP und FPÖ unter Wolfgang Schüssel (Januar 2000 bis April 2005) und Sebastian Kurz (Dezember 2017 bis Mai 2019) erscheint eine neuerliche Koalition der beiden Parteien als wahrscheinlich. 

Dadurch würde sich auch die Bedeutung der Politik Viktor Orbáns in Österreich deutlich verändern. Denn sowohl ÖVP als auch FPÖ haben in der Vergangenheit ihre Bewunderung für den ungarischen Ministerpräsidenten Orbán und sein Projekt einer „illiberalen Demokratie“ zu erkennen gegeben – die Entwicklung in Österreich nach 2017 wurde auch als „Orbánisierung“ charakterisiert (1). Der Vorsitzende der FPÖ, Herbert Kickl, erklärte wiederholt, dass er Orbán als Vorbild betrachtet und Österreich nach dessen Muster umbauen will. Vor diesem Hintergrund diskutieren wir die Frage, inwieweit von einer möglichen FPÖ-ÖVP-Koalition eine Umgestaltung der österreichischen Demokratie in ein illiberales Regime nach ungarischem Muster zu erwarten ist. 

Wie gelang Viktor Orbán der Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen 2010?

Bei den ungarischen Parlamentswahlen im April 2010 erzielte das Wahlbündnis Bund der Jungen Demokraten (Fidesz) gemeinsam mit seinem kleinen Bündnispartner Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP) einen Erdrutschsieg. Die gemeinsame Liste von Fidesz/KDNP erreichte 52,73 Prozent der Listenstimmen, und die Direktkandidaten des Wahlbündnisses setzten sich in 172 der 176 Einerwahlkreise durch. Insgesamt kam Fidesz/KDNP auf 262 der 386 Mandate der ungarischen Landesversammlung, was einem Anteil von 67,9 Prozent und damit einer Zweidrittelmehrheit entspricht (2).

Zur Erklärung des Wahlergebnisses lassen sich unter anderem zwei Hauptgründe anführen (3). Zum einen war die Gesamtbilanz der seit 2002 bestehenden Regierung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) und des Bundes der Freien Demokraten (SZDSZ) denkbar schlecht. Die Regierung hatte die notwendigen Strukturreformen im Gesundheits- und Bildungswesen gar nicht oder ohne Erfolg in Angriff genommen und war der bisher schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise Ungarns und dem Anstieg der Staatsverschuldung auf über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zunächst mit nur halbherzig betriebenen Reformen begegnet. Schließlich wurden aufgrund der Zwänge der Wirtschaftskrise Sparmaßnahmen beschlossen. Vor allem die Einschnitte in soziale Leistungen waren sehr unpopulär (4).

Zum anderen hatte die sogenannte Lügenrede von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány eine vollständige moralische Diskreditierung der MSZP zur Folge. Er hatte in einer geheimen, aber später den Medien zugespielten Rede vor der Parlamentsfraktion der MSZP zugegeben, dass man vor den Wahlen 2006 die ungarische Bevölkerung bewusst belogen hatte. Überdies war die Polizei den durch die Rede ausgelösten großen Protestdemonstrationen zum Teil mit großer Härte und Brutalität entgegengetreten. Die Diskreditierung wurde durch eine Reihe von in den letzten Monaten vor den Wahlen 2010 aufgedeckten Korruptionsaffären von Politikern der MSZP noch weiter verstärkt (5).

Der Umbau des politischen Systems nach 2010: Schrittweise Erosion von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Unmittelbar nach seinem Sieg bei den ungarischen Parlamentswahlen im Jahr 2010 kündigte Viktor Orbán einen umfassenden Umbau des politischen Systems an, den seine Regierung – gestützt auf eine Zweidrittelmehrheit im Parlament – mit großem Tempo vorantreiben konnte. Zentrale erste Schritte waren die Verabschiedung einer neuen Verfassung (Grundgesetz), eines neuen Wahlgesetzes und eines neuen Mediengesetzes im Jahr 2011. Mit dem Grundgesetz wurden die Position der Regierung gestärkt und insbesondere das Verfassungsgericht als Gegengewicht durch eine Beschneidung seiner Kompetenzen geschwächt. Noch vor der Verabschiedung der neuen Verfassung hatte die Regierungsmehrheit eine Erhöhung der Zahl der Verfassungsrichter:innen von elf auf fünfzehn beschlossen. Da die Parlamentsmehrheit zuvor die Regeln für die Wahl der Verfassungsrichter:innen geändert hatte, konnte die Regierung sofort im Alleingang mehrere ihr nahestehende Richter:innen wählen. Während im für die Richterwahl zuständigen Parlamentsausschuss bis 2010 jede Fraktion mit einer bzw. einem Abgeordneten vertreten war, sind die Fraktionen seitdem ihrem proportionalen Mandatsanteil im Parlament entsprechend repräsentiert. Auch nach der Verabschiedung des neuen Grundgesetzes setzte die Regierung regelmäßig Verfassungsänderungen durch (6), im Juni 2014 wurde bereits die 13. Modifikation des Grundgesetzes beschlossen.

Das neue Wahlgesetz hält zwar an der 1989 eingeführten Kombination von Verhältnis- und Mehrheitswahl mit kompensatorischen Elementen fest, führte aber gleichzeitig bedeutende Neuerungen ein. Zum einen wurde eine bereits vor der Verabschiedung des neuen Wahlgesetzes beschlossene Verkleinerung der Zahl der Abgeordneten von 386 auf 199 umgesetzt. Dies machte das Festlegen neuer Wahlkreisgrenzen notwendig, was die Regierungsmehrheit in erheblichem Maße zu sogenanntem Gerrymandering, also zur Verschiebung von Wahlkreisgrenzen zu ihren Gunsten, nutzte. Zum anderen wurde für die Wahl der Direktkandidaten die zuvor angewandte absolute durch die relative Mehrheitswahl ersetzt, so dass nur noch eine Wahlrunde notwendig und eine strategische Einigung der Oppositionsparteien auf gemeinsame Kandidat:innen vor dem zweiten Wahlgang nicht mehr möglich ist. Außerdem wurde das Verhältnis zwischen Direkt- und Listenmandaten zugunsten der Direktmandate modifiziert. 106 der 199 Mandate werden in den Einerwahlkreisen vergeben, was einem Anteil von 53 Prozent entspricht. Zuvor waren es nur 45 Prozent der Mandate gewesen. Weiter wurde bei den Wahlen der Direktkandidat:innen neben der bereits bestehenden „Verliererkompensation“ eine „Gewinnerkompensation“ eingeführt. Durch diese werden die Stimmen der erfolgreichen Kandidat:innen in den Einerwahlkreisen, die für den Gewinn ihrer Mandate nicht notwendig gewesen wären, zu den auf die Liste ihrer Partei abgegebenen Stimmen addiert. Schließlich wurde der Kreis der Wahlberechtigten um die ungarischen Staatsbürger:innen, die in den Nachbarstaaten Ungarns leben, aber nie in Ungarn ansässig waren, erweitert. Dies war verbunden mit der Erleichterung des Erwerbs der ungarischen Staatsbürgerschaft. Die genannten Modifizierungen verstärkten die disproportionale und mehrheitsbildende Wirkung des Wahlsystems, was bei den letzten drei Wahlen jeweils der Regierungspartei Fidesz zugutekam (7).

Durch das neue Mediengesetz wurden die staatlichen Medien unter einem Dach vereinigt und mit der Nationalen Medien- und Kommunikationsbehörde (NMHH) und dem Medienrat neue Aufsichts- und Kontrollgremien geschaffen. Die NMHH vergibt Sendefrequenzen und ist für den Konsumenten- und Wettbewerbsschutz zuständig. Der Medienrat kontrolliert eine „ausgewogene“ Berichterstattung. Außerdem verfügt die staatliche Nachrichtenagentur MIT über das Monopol bei der Nachrichtenversorgung der staatlichen Rundfunkanstalten. Gleichzeitig wurde ein System der gezielten finanziellen Unterstützung regierungsnaher Medien durch staatliche Werbung etabliert. Ab 2014 kam es zu zahlreichen staatlich unterstützten Übernahmen oppositioneller Medien durch regierungsnahe Unternehmer:innen. 2018 folgte schließlich eine Zentralisierung der regierungsnahen Medien in der „Mitteleuropäischen Presse- und Medienstiftung“ (KESMA), indem die Eigentümer:innen der Medien diese gratis an die Stiftung übergaben. Durch diese Maßnahmen ist es der Regierung Orbán gelungen, wichtige oppositionelle Medien in den Hintergrund oder ganz vom Markt zu verdrängen.

Nachdem nach 2010 zunächst prioritär die Grundlagen des politischen Systems umgestaltet worden waren, wurde in den folgenden Legislaturperioden die Handlungsfähigkeit bis dahin autonomer staatlicher Einrichtungen und bestimmter gesellschaftlicher Akteure gesetzlich beschränkt. Dies betraf insbesondere die ungarischen Hochschulen und das Wissenschaftssystem, vom Ausland unterstützte regierungskritische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und oppositionelle Parteien und Bewegungen.

Neben Reformen der politischen Institutionen und Verfahren war ein umfassender Personalaustausch auf allen wichtigen Positionen im Staatsapparat, in der Justiz, in den staatlichen Medien und im Kulturbereich ein zentrales Element des Systemumbaus. In allen Bereichen wurden loyale Anhänger:innen der Regierung platziert und zum Beispiel im Verfassungsgericht, in der NMHH, dem Rechnungshof, der Wettbewerbsbehörde und der Generalstaatsanwaltschaft mit langen Amtszeiten von sechs bis zwölf Jahren ausgestattet. Die Unabhängigkeit sowie die Kontrollfunktion der Justiz und der anderen Aufsichtsbehörden wurden durch diese Art der Personalpolitik ebenso eingeschränkt wie die Autonomie der staatlichen Medien, Museen, Theater und Universitäten.

Zur Legitimierung des Systemumbaus und der Politik der Regierung dient zum einen die Fundierung des Systems auf einer neuen christlich-konservativen Wertegrundlage, in der konservative Familienwerte und ein paternalistisches, patriarchalisches Konzept der politischen Gemeinschaft wesentliche Bezugspunkte darstellen. Die christliche-konservative Ideologie wurde im Grundgesetz verankert und prägt auch die Kultur- und Bildungspolitik. Maßgeblich ist Orbáns Konzept einer „illiberalen Demokratie“, in der Interessen der Gemeinschaft und der Nation einen herausgehobenen Stellenwert besitzen.

Zum anderen spielt für die Legitimierung des Systems die Erzeugung eines permanenten Ausnahmezustandes durch die ständige Beschwörung einer existenziellen Bedrohung der ungarischen Nation durch äußere und innere Feinde eine zentrale Rolle. Gemäß dem Narrativ der Regierung sind die ungarische Souveränität, Identität und Kultur von außen durch die EU („Brüssel“), die „globalen linken Eliten“ und den ungarisch-stämmigen Finanzinvestor George Soros sowie von innen durch die ungarischen Oppositionsparteien, regierungskritische NGOs und Medien bedroht. Vor dem Hintergrund der ständig reproduzierten Feindbilder stellt sich die Regierung als die einzige Kraft dar, die die ungarische Nation verteidigen und die Souveränität und Identität des Landes mit starker Hand beschützen kann.

Wir fassen zusammen: Zentrale Schritte des Systemumbaus waren zunächst die Schwächung des Verfassungsgerichts als Vetopunkt und Kontrollinstanz sowie die Gewinnung der Kontrolle über die staatlichen Medien und einen großen Teil des gesamten privaten Mediensystems. Hinzu kam eine Modifizierung des Wahlsystems, deren verschiedene Elemente dessen disproportionale Wirkung zu Gunsten der größten Partei verstärken und zur dauerhaften Absicherung einer Zweidrittelmehrheit der Fidesz-Partei beitragen. Durch die Besetzung aller wichtigen Leitungspositionen in staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen mit loyalen Fidesz-Anhänger:innen verloren diese ihre Kontrollfunktion und Unabhängigkeit und wurden stattdessen zu Instrumenten der Regierung. Ergänzt wurde diese Machtzentralisierung bei der Exekutive durch Maßnahmen zur Einengung des Handlungsspielraums bisher unabhängiger Institutionen und Akteure. Schließlich untergraben die Konstruktion immer neuer Feinde und die damit verbundene Dämonisierung oppositioneller Parteien, NGOs und Medien sowie der erhobene exklusive Anspruch der Interessenvertretung der ungarischen Bevölkerung durch Fidesz die Grundlagen des demokratischen Wettbewerbs. Das systemische Zusammenwirken der einzelnen Reformelemente verstärkt dabei ihre die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aushöhlende Wirkung.

Das Umbauprojekt von Sebastian Kurz

Im Mai 2017 hatte der österreichische Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz handstreichartig die ÖVP übernommen. Was damals nicht bekannt war: Die Machtübernahme war mit einem kleinen Team von Vertrauten über ein Jahr sorgsam geplant worden. Hinter den Kulissen der Öffentlichkeit (und hinter dem Rücken von weiten Teilen der ÖVP) wurden aber nicht nur die Übernahme der Partei und ein Regierungswechsel angestrebt, sondern der Plan verfolgt, in Österreich ein auf Kurz zugeschnittenes autoritäres System nach ungarischem Vorbild zu errichten (8). Auch die „Analyse“ des Bestehenden entsprach dem üblichen rechtspopulistischen und rechtsradikalen Schema. „Die Mehrheit hass[t] ‚das System‘ – vor allem die an der Spitze stehende Regierung und die in ihr vertretenen Parteien“, so ein Strategiepapier zur Machtübernahme vom Juli 2016 (9). „Das System sind ‚die da oben‘'“ – eine solche Formulierung könnte auch von der FPÖ stammen. Und inhaltlich hieß es im „Grundlinien Wahlprogramm“ eines Beraters von Kurz, es gehe um „FPÖ-Themen, aber mit Zukunftsfokus“ (10). Mit anderen Worten: Sebastian Kurz entnimmt den nationalen Rechten „ihren politischen Kern und pflanzt ihn seiner christdemokratischen Partei ein.“ (11)

Aus der Wahl vom September 2017 ging Kurz als Sieger hervor – den Wahlkampf hatte er vor allem mit dem Kampf gegen die EU und dem Slogan geführt, er habe als Außenminister die Balkanroute geschlossen und dadurch die Zahl der ankommenden Migrant:innen gesenkt – wobei er dabei in Europa nur von Orbán unterstützt worden sei (12). Auch die FPÖ punktete mit dem Migrationsthema – und mit Orbán. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache bedankte sich bei Viktor Orbán, weil dieser die EU-Außengrenzen geschützt habe (13).Knapp vor dem Wahltermin kam es in einer TV-Konfrontation von Kurz und Strache zu einer bemerkenswerten Kontroverse, bei der sie darum wetteiferten, wer von ihnen den besseren Zugang zu Orbán habe (14).

Nach den Wahlen bildete sich zügig eine Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ – genau wie es schon im ursprünglichen geheimen Strategieplan von Kurz im Jahre 2016 vorgesehen gewesen war.

Die Regierung Kurz-Strache setzte viele Maßnahmen um, die als partielle „Orbánisierung“ Österreichs bezeichnet werden können, weil sie Prozesse nachahmten, die in Ungarn bereits vollzogen waren. Die zentrale Dynamik ging dabei von der ÖVP aus. Sowohl die eigene Partei als auch der von ihr kontrollierte Staatsapparat wurden zentralisiert und auf die Person Sebastian Kurz ausgerichtet. Dieser hatte sich bei der Übernahme des Parteivorsitzes bisher unbekannte Kompetenzen geben lassen, darunter das Recht, Listenplätze für die Wahlen festzulegen. In der Folge wurde der ÖVP eine neue Entscheidungsstruktur verpasst. Innerhalb der neuen „Bewegung“ wurde – wie ein Kritiker schrieb – „jede noch so winzige Weichenstellung von einer kleinen Gruppe weitgehend unbekannter Menschen an der Parteispitze vorgenommen – eine zentralistisch-autokratische, völlig auf innerparteiliche Demokratie verzichtende Strategie.“ (15)

Dazu passend wurden auch die Regierungsgeschäfte zentralisiert. Die Generalsekretärsposten in den einzelnen Ministerien wurden politisch besetzt und mit ihrer Hilfe Parallelstrukturen zum etablierten Personal aufgebaut. Aufgaben, die früher im Ministerium selbst verrichtet worden waren, wurden nun oft an der ÖVP nahestehende Firmen vergeben (16). Auch die vom Staat kontrollierten Unternehmen und den öffentlichen Rundfunk sollten straffer geführt werden. In einer geheimen Vereinbarung mit Strache, die später bekannt wurde, reklamierte die ÖVP alle von der Regierung zu vergebenden Posten mit einem Schlüssel von 2:1 zwei zu eins für sich, das betraf unter anderen mehr als dreißig Aufsichtsräte für die ÖVP. 2019 wurde der Generalsekretär im Finanzministerium Thomas Schmidt, der heute als Kronzeuge gegen die ÖVP fungieren will (17), zum alleinigen Vorstand der Österreichischen Beteiligungs-AG (ÖBAG), die die staatlichen Beteiligungen an börsennotierten Unternehmen verwaltet. Auch das Rechtssystem sollte umgebaut werden. Zunächst verfolgte man den Plan, alle vor der Jahrtausendwende veröffentlichten Gesetze und Verordnungen (mit Ausnahmen) außer Kraft zu setzen; dieses Vorhaben konnte aber nicht realisiert werden. Am 1. Januar 2020 wurden 21 Sozialversicherungsträger auf fünf reduziert und die neun Gebietskrankenkassen zu einer Österreichischen Gesundheitskasse fusioniert. In diesen Prozessen wurden die Positionen der ÖVP-nahen Organisationen deutlich gestärkt, die anderen Parteien und die Sozialpartner insgesamt geschwächt.

Zentral war der Um- und Ausbau des Mediensystems. Kurz ist heute angeklagt, ab 2016 mit Steuermitteln eine positive Berichterstattung erkauft zu haben. Doch ÖVP und FPÖ verfolgten medial noch durchaus weitreichendere Ziele, wie das berüchtigte Ibiza-Video enthüllt (18). Darin erzählt Strache von seinem Plan, die Kronenzeitung(sie erreicht täglich gut zwei Millionen Leser:innen) zu übernehmen, und verkündete mehrfach, ein Medienimperium wie Orbán errichten zu wollen. Was Strache ankündigte, setzte Kurz in die Tat um. Im November 2018 erwarb der mit ihm befreundete Immobilientycoon René Benko 24,5 Prozent des Anteils an der Kronenzeitung(sowie am Kurier) – dieses Paket muss jetzt in Abwicklung der Insolvenz der von Benko gegründeten Signa-Holding wieder verkauft werden. Strache wusste von diesem Deal bereits im Skandalvideo, 16 Monate im Voraus. Sein eigenes Projekt wollte er mithilfe von Vienna Capital Partners (VCP) durchführen – die VCP erwarb 2016 den Großteil des Funke-Besitzes der Funke Mediengruppe an ungarischen Printmedien, darunter die regierungskritische Tageszeitung Népszabadság. Diese Zeitung wurde geschlossen und wenig später an einen mit Orbán befreundeten Oligarchen verkauft.

Der große Erfolg von Kurz lag in der Beeinflussung der Medien. Im ORF wurde eine Mehrheit für die ÖVP hergestellt und Kurz war bald als Hauptredner in vielen Sondersendungen im Hauptabendprogramm zu sehen. Medienspezialist Gerald Fleischmann berichtete später im Detail, wie genau die Medien beeinflusst wurden (19). Als Gegenleistung für eine regierungsfreundliche Berichterstattung wurden die Inserate der Ministerien in befreundeten Medien deutlich gesteigert. Die erfolgreiche „Message Control“ hatte den Zweck, unliebsame Berichterstattung über die vielen Skandale und Korruptionsvorwürfe zu verhindern und parteiinternen Konflikten entgegenzuwirken.

Im Wahlkampf 2024 spielten diese Fragen kaum eine Rolle. Viele Zeitungen und teilweise auch der ORF betrieben eine systematische Herabwürdigung des Spitzenkandidaten der Sozialistischen Partei. Zugleich wurde die FPÖ medial vollends normalisiert. Sie hat zudem ihr wirtschaftspolitisches Programm weitgehend an das der ÖVP angeglichen.

Der jetzige FPÖ-Chef Herbert Kickl war 2017 gegen eine Regierungsbildung mit der ÖVP. Nach den Wahlen gab er seinen Widerstand auf und wurde mit dem Innenministerium belohnt. Als Innenminister hatte er Gelegenheit, die Macht der ÖVP bei den Nachrichtendiensten und der Polizei zurückzudrängen. Bereits im Januar 2018 begann Kickl mit Angriffen auf das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), das seit Jahren von der ÖVP kontrolliert wird, unter anderem, um sich politische Munition gegen die Konkurrenz zu beschaffen (20). Im Februar 2018 wurde das BVT überfallartig durchsucht und sensible Daten auch ausländischer Geheimdienste ohne ausreichende Sicherung beschlagnahmt – mit der Folge, dass Österreich zeitweise von einer Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten ausgeschlossen war. Eine weitere Konsequenz waren heftige Kämpfe der Justiz mit dem BVT und mit dem Innenministerium, die – mit wechselnden Fronten und Allianzen – bis heute anhalten.

Im gegenseitigen Kampf von ÖVP und FPÖ geriet das Justizsystem systematisch unter Beschuss. Befreundeten Unternehmern, wie Markus Braun und Ian Marsalek von Wirecard oder René Benko, wurde bis zuletzt geholfen. Vor allem der Präsident des Nationalrates Wolfgang Sobotka, gegen den ein Ermittlungsverfahren wegen dem Verdacht auf Anstiftung zum Amtsmissbrauch geführt wird, zeichnete sich durch viele Angriffe auf die Justiz aus (21).

Was wäre von einer künftigen ÖVP-FPÖ-Koalition zu erwarten?

Eine neue Koalition von ÖVP und FPÖ würde all diese Tendenzen fortsetzen und verstärken. Zu erwarten sind viele Maßnahmen, die Orbán vorlebt, wie die Schwächung der Justiz als unabhängiges Kontrollorgan, die Zurückdrängung unabhängiger und regierungskritischer Medien, die Schaffung dauernder Bedrohungsszenarien, ein Kulturkrieg (der bereits von der ÖVP und der FPÖ praktiziert wird), ein Kampf gegen die EU und ein Stillstand oder gar Rückschritte in der Klimapolitik. Die ÖVP würde das Innenministerium anstreben und versuchen, die Verfahren, die nach dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz gegen sie selbst als Bundespartei und gegen mehr als ein Dutzend ihrer Spitzenfunktionäre geführt werden, zu verhindern, jahrelang zu verschleppen oder zu beenden. Die Ermittlungen basieren vor allem auf Akten, die im Oktober 2021 durch gerichtliche Untersuchungen im Finanzministerium, im Bundeskanzleramt und in einem der wichtigsten Verlagshäuser des Landes sowie in der ÖVP-Zentrale sichergestellt wurden. Drei Tage danach trat Kurz als Bundeskanzler zurück. Sollte es der ÖVP durch die Übernahme des Innenministeriums gelingen, diese Verfahren einzustellen. ist selbst eine Wiederkehr von Kurz in die Politik nicht ausgeschlossen.

Ob und wie für diese Verfahren für die ÖVP eine Koalition mit der FPÖ hilfreich sein kann, ist fraglich. Aber auch die FPÖ steht unter einem Erfolgsdruck, der in der Eskalationslogik einer rechtsextremen Bewegung angelegt ist (22). Die FPÖ ist unter Kickl im Vergleich zu seinen Vorgängern deutlich nach rechts gerückt. So wurde jede Abgrenzung zu den Identitären aufgegeben und FPÖ-Funktionär:innen treten unverhohlen auf Demonstrationen mit rechtsradikalen Corona-„Schwurblern“ auf. Zwei Tage vor den Nationalratswahlen wurde beim Begräbnis eines Parteifunktionärs das „Treuelied“ der SS gesungen. Drei Spitzenfunktionäre, die in den Nationalrat gewählt wurden, waren dabei; die Partei hat sich nicht distanziert. Ähnlich wie Orbán erzählt die FPÖ unter Kickl in Plakaten und in Videos offen die Botschaft von einer Weltverschwörung „der Globalisten“: eine geheime Weltzentrale dirigiere die Welt und forme ein „System“, dem alle anderen Parteien als „Systemparteien“ unterworfen seien. Diese bildeten eine „Einheitspartei“, die sich den Vorgaben „der globalistischen Agenda untergeordnet“ habe (23).

Kickl ist bei den Wahlen mit Ziel angetreten, „Volkskanzler“ zu werden. Er sprach von einer „Fahndungsliste“ für seine politischen Feinde und drohte eine Zähmung der „Lügenpresse“ an. Die FPÖ propagierte im Wahlkampf offen ihre Pläne, hunderttausende „Ausländer“ zwangsweise zu deportieren und eine „Festung Österreich“ zu errichten. Ein Wahlsieg von Donald Trump könnte diese Bestrebungen befördern. Dieser hat in einem Interview Ende April 2024 ebenfalls angekündigt, im Falle eines Wahlsieges elf Millionen Menschen aus den USA zu deportieren und an den Außengrenzen der Vereinigten Staaten Camps zu errichten. Zudem strebt Trump enge Beziehungen zu Orbán an: Eine derartige Allianz könnte der FPÖ in einer neuen Koalition Rückenwind gegeben und ihren Deportationsplänen helfen.

Aber die Hauptgefahren einer Orbánisierung Österreichs sind interner Art. Eine Verfassungsänderung, wie es Orbán in Ungarn gelungen ist, ist nicht wahrscheinlich. Aber die bestehende Verfassung bietet weithin unbekannte Möglichkeiten. Tamara Ehs hat geschildert, welche Machtfülle in Österreich der Bundespräsident genießt und wie ein von der FPÖ gestellter Bundespräsident nach dem Vorbild von 1930 und 1932 dazu beitragen könnte, legal ein autoritäres Regime in Österreich einzurichten (24). Diese Möglichkeit kommt allerdings erst bei einem neuen Bundespräsidenten in Betracht, die nächste reguläre Wahl findet 2028 statt.

Kurzfristig gibt es andere Möglichkeiten. Die FPÖ reklamiert als stimmenstärkste Partei das Amt des Parlamentspräsidenten für sich, das ungemein viele Befugnisse verleiht: Diese Person führt den Vorsitz im Nationalrat, ist Chef:in der Parlamentsdirektion, legt den gesamten Parlamentsbetrieb fest, bestimmt die Termine aller Debatten und die Fragestunden, kann jedem Abgeordneten das Wort entziehen, aber auch formlos beliebig lang reden lassen. Er oder sie agiert dabei de facto ohne Kontrolle. Die Missbrauchsmöglichkeiten sind somit beachtlich. Von dieser Position kann für die Dauer der Legislaturperiode (immerhin fünf Jahre) niemand abgewählt werden, das sieht die Verfassung nicht vor. Das allerletzte Mittel wäre die Auflösung des Nationalrats durch den Bundespräsidenten.

Das ungarische Beispiel zeigt deutlich, dass durch eine demokratische Wahl legitimierte, strategisch handelnde politische Akteure ein demokratisches System durch viele kleine aufeinanderfolgende Schritte schleichend aushöhlen und schließlich in ein illiberales Regime umwandeln können. Angesichts der von Herbert Kickl explizit geäußerten Absicht, Österreich nach ungarischem Vorbild umzubauen, und der im Rahmen des bestehenden Verfassungssystems gegebenen Möglichkeiten erscheint eine Orbánisierung Österreichs ein realistisches Szenario.

Anmerkungen


  1. Vgl. Joachim Becker, Schwarz-Blaues Regieren II: Orbánisierung in Rot-Weiß-Rot?, in: Kurswechsel, H. 1/2018, S. 102–112 sowie Ruth Wodak, Entering the „post-shame era“: the rise of illiberal democracy, populism and neo-authoritarianism in Europe, in: Global Discourse, H. 1/2019, S.195–213.
  2. (Vgl. Wahlergebnisse der Parlamentswahl von 2010 auf der Seite der Nationalen Wahlbehörde Ungarns, tinyurl.com/indes244v1.
  3. Ein weiterer wichtiger Grund liegt in dem vorher erfolgten erfolgreichen Umbau der Organisationsstrukturder Fidesz-Partei, vgl. Ellen Bos, Politisches System und Demokratieentwicklung in Ungarn. Funktionsdefizite und Instrumentalisierung demokratischer Verfahren durch die Regierungsparteien, in: Dies. & Astrid Lorenz (Hg.), Das politische System Ungarns. Nationale Demokratieentwicklung, Orbán und die EU, Wiesbaden 2021, S. 25–55.
  4. Vgl. Ellen Bos, Ungarn unter Spannung. Zur Tektonik des politischen Systems, in: Osteuropa, H. 12/2011, S. 39–63, hier S. 39.
  5. Vgl. Bos 2011, S. 49.
  6. Vgl. Gábor Tóth, Macht statt Recht. Deformation des Verfassungssystems in Ungarn, in: Osteuropa, H. 4/2013, S. 21–28; András Jakab & Eszter Bodnár, Agonie eines jungen Verfassungsstaates. Die ungarische Verfassung 1989 bis 2019, in: Bos & Lorenz (Hg.), Das politische System Ungarns, S. 57–73.
  7. Vgl. für die folgenden Abschnitte Bos, Demokratieentwicklung in Ungarn, 2021, S. 38–46.
  8. Vgl. Becker.
  9. Vgl. tinyurl.com/indes244v2. Vgl. auch Peter Pilz, Kurz. Ein Regime, Wien 2021, S. 43 ff.
  10. Vgl. tinyurl.com/indes244v3.
  11. Vgl. Pilz, S. 15.
  12. Nach Gerald Knaus stammt die Idee der Schließung der Balkanroute von Orbán, der sie schon 2015 äußerte. Sie wurde dann 2016 und 2017 schrittweise bis nach Mazedonien in Gang gesetzt. Kurz hat ihr die „finale Form gegeben, um den Prozess endgültig abzuschließen". Vgl. Marie North, Faktencheck: Wer hat die Balkanroute geschlossen?, in: Der Kurier, 09.10.2017, tinyurl.com/indes244v4.
  13. Vgl. o. V., Strache im Interview: „Wir müssen Viktor Orban Dank aussprechen“, in: vienna.at, 04.07.2017, tinyurl.com/indes244v5.
  14. Vgl. o. V., Kurz sieht Kanzlerduell mit Strache, in: profil.at, 11.10.2017, tinyurl.com/indes244v6.
  15. Fabio Wolkenstein, Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung, München 2022, S. 163.
  16. Viele Beispiele zeigen, wie dadurch die operative Qualität des Regierens gesunken ist. Dies zeigt sich u. a. (1) in der Handhabung der Corona-Pandemie im Gesundheitsministerium, (2) in einem Spionageskandal, in Pannen vor dem Wiener Terroranschlag und in den Defiziten im Flüchtlingsmanagement im Innenministerium, (3) in Turbulenzen im Strafrechtswesen im Justizministerium und (4) im „Projekt Kaufhaus“ im Wirtschaftsministerium. Vgl. Oliver Scheiber, Die Verwaltung ist in der Krise. Eine Chronik, 13.04.2024, tinyurl.com/indes244v7
  17. Ob Thomas Schmidt diesen Status zuerkannt bekommt, war zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Papers noch nicht bekannt.
  18. Vgl. Detlef zum Winkel, Ibizagate: Einblicke in die Strategie der Machtergreifung, in: Telepolis, 28.05.2019,tinyurl.com/indes244v8.
  19. Vgl. GeraldFleischmann, Message Control. Was Sie schon immer über Politik und Medien wissen wollten, Wien 2023, S. 175. Fleischmann arbeitete seit 2011 für Kurz. 2017 wird er in der ÖVP-FPÖ-Koalition stellvertretender Kabinettchef im Büro von Kurz und Leiter der strategischen Kommunikationsplanung. Seit November 2022 ist er erneut als Kommunikationsleiter der ÖVP tätig. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Untreue und der Bestechlichkeit. Zur Medienbeeinflussung vgl. Pilz, 90 ff.
  20. Vgl. ebd., S. 69 ff.
  21. Gemeinsam mit Andreas Hanger, dem ÖVP-Fraktionsführer eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Korruption in der ÖVP, unternahm Sobotka alles, um den Ausschuss zu boykottieren. Unter anderem wurde die Befragung der ÖVP-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner durch den SPÖ-Fraktionsführer vierzig Mal durch ÖVP-Wortmeldungen zur Geschäftsordnung unterbrochen.
  22. Vgl. Walter O.Ötsch & Nina Horaczek, Populismus für Anfänger. Anleitung zur Volksverführung, Frankfurt a. M. 2017, S. 183–191.
  23. Vgl. FPÖ-TV, Mit EUCH gegen das System – Der Film, 23.05.2024, tinyurl.com/indes244v9. 
  24. Tamara Ehs, Austrofaschismus als Drehbuch: Wie die FPÖ nach der Macht greift, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2/2024, S. 81–86.
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