Was läuft falsch im Umweltdiskurs?
Stichworte zu meinem Beitrag zur Ringvorlesung Nur noch kurz die Welt retten?, veranstaltet vom Institut für Geographie, am 23.1.2023 an der Universität Wien
1. Ausgangspunkt
(a) Eine soziökonomische Transformation kann nur dann gelingen, wenn sich der öffentliche Diskurs zu den Problemen der Umwelt deutlich ändert.
(b) Zu fragen ist: Warum haben die Umweltdebatten seit vier Jahrzehnten so wenig erreicht?: „Die verlorenen vier Jahrzehnte“
(c) Geschichte der Politik, Geschichte der Gesellschaft
Eine fehlende Gesellschaftstheorie?
Rosa, Hartmut / Oberthür, Jörg u.a. (Hg.): Gesellschaftstheorie. UKV Verlag München 2020
Einzelne Aspekte, wie Naturverhältnis, Individualisierung, Ungleichheit, … und ihre Geschichte
Fazit von Hartmut Rosa: Krise der Formationsbegriffe (Grenzziehungen und Begriffsbildung, welche Art von Homogenisierungen, …):
„Folgt man dieser Logik, lösen sich alle Formationsbegriffe auf, und es bleibt nur die Möglichkeit einer mikro- oder mesosoziologischen Analyse einzelner Phänomenketten.“ (223)
Dennoch: „Deshalb stellt dieses Buch auch den Versuch dar, die Kategorie der Gesellschaft ebenso wie den Begriff der Moderne gegen ihre Kritik zu verteidigen und ihre analytische Fruchtbarkeit nachzuweisen. Wir wollen Gesellschaftstheorie betreiben, weil wir sie erkenntnistheoretisch für unverzichtbar halten.“ (224)
Vorschläge: Kapitalistische Gesellschaft, demokratische Gesellschaft, Wegwerfgesellschaft, Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992), Arbeitsgesellschaft (Offe 1984), Gesellschaft der Singularitäten (Reckwitz 2017), Multioptionsgesellschaft (Gross 1994), Jenaer Ansatz (Rosa, Lessenich, Dörre)
(d) Periodisierung? Umgang mit der Natur? Kern der ökologischen Problematik als gesellschaftliches Problem?
Drei Möglichkeiten für eine Periodisierung der ökologischen Probleme
d1. Krise des Projekts der Moderne, ab dem 17. Jahrhundert
Drastische Veränderung des gesellschaftlich akzeptierten Bilds von der Natur im Vergleich zum Denken im Mittelalter und in der Renaissance
Ötsch, Walter: Der berührende Raum. Frühes und hohe Mittelalter, Sonderdruck der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung Koblenz 2022:
These einer Änderung der Art der Wahrnehmung von „Mitwelt“ und sich selbst
d2. Krise des industriellen Kapitalismus, ab 1760
Herrmann, Ulrike: Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022
These zur Entschung des industrielle Kapitalims in England. Warum genau hier und warum zu dieser Zeit?: hohe Löhne und billige Energie (Kohle). Das ermöglichte es (erstmals in der Geschichte) Maschinen einzusetzen, deren Kapitalkosten geringer waren, als die eingesparten Löhne. Erst ab jetzt werden Maschinen eingesetzt, um Arbeitskräfte zu sparen –> Arbeitsproduktivität erhöht sich ungeheuer.
Daraus entsteht ein neues Wirtschaftsmodell mit einer erstmals dauerhaft wachsenden Wirtschaft.
Adam Smith als Zeiitgenosse (er sit 1790 gestorben) hat diesen Prozess nicht erkannt. Der Begriff „Marktwirtschaft“ ist dafür ungeeignet.
Konkret: Die erste Welle des Einsatzen von Maschinen in der Produktion geschah in der Textilindustrie (zuerst Spinnen, dann Weben), dann Dampfmaschinen: ihre Energieeffizienz wurde drastisch erhöht, dann die Eisenbahnen.
Im 18. Jahrhundert hatte man keine Vorstellung von einer technischen Moderne.
Alle anderen Länder wurden durch die Industralisierung in England zu „Entwicklungsländern". Für arme Länder entstand ein Teufelskreis, aus dem sich viele bis heute nicht befreien konnten: ihre Löhne sind zu niedrig, dass sich der Einsatz von Maschinen lohnen würde. Alle Länder, die es geschafft haben, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, taten das mit Hilfe des Staates. Industrialisierung ist kein flächendeckender Prozess,der von selbst und automatisch geschieht.
Daraus resultiert dustrialisierten Kapitalismusein permanenter Wachstumszwang. Wachstum kommt so zustande: Geldschöpfung durch Geschäftsbanken (aus dem "Nichts") –> Kapital als Kredit vergeben –> Kauf von Maschinen –> Einsatz in der Produktion –> Erlöse aus dem Verkauf der erzeugten Produkte. Daraus muss ein Gewinn entstehen, der die Rückzahlung des Kredits ermöglicht. (Es geht in der Wachstumsproblematik nicht vorrangig um Zinsen und um eine „Zinsproblematik“)
Aus dem Wachstumszwang und dem aktuellen Wachstum resultieren mit systemischer Notwendigkeit ökologische Krisen, die vielen Probleme der Mitwelt sind systemisch durch den Industriekapitalismus bedingt. Heute haben wir mehrere Krisen: mit steigendem CO2, Kippeffekten, „Hitzekuppeln“, unbekannten weiteren Risiken, …
d3. Krise der ökonomisierten Gesellschaft, ab 1980er Jahren: basiert auf dem neoliberalen Denken
Der herrschende Neoliberalismus hat zu einer Neubestimmung des Konzeptes von geführt , einer neuen Wirtschaftspolitik (Ablösung des Keynesianismus), einer neuen Wirtschaftstform (des Finanzkapitalismus), einer neuen Form „der“ Globalisierung (ab 1989) und einer neuen Form der Gesellschaft (die ökonomisierte Gesellschaft).
Ötsch, Walter: Mythos Markt, Mythos Neoklassik. Das Elend des Marktfundamentalismus, Metropolis Marburg 2019.
Hier wird dieser Prozess theoretisch erklärt, vor allem die Bedeutung des Begriffs "der Markt" in der Einzahl, siehe unten
Lepenies, Philipp: Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geist des Unterlassens, Suhrkamp Berlin 2022.
Eine gute Übersicht über die Geschichte des Neoliberalismus und wie der Freiheitsbegriff heute (in Abkehr von seiner verwnindung im klassischen Liberalismus) heute gegen emanzipatorishe Ansprüche eingesetzt wird.
2. Neoliberalismus und das neue Konzept der Politik
Das Schaubild zeigt, welche Richtungen in der Ökonomie die neoliberale Bewegung in der Zwischenkriegszeit errichtet haben.
Eine einfache Übersicht, wie sich das neoliberale Denken auf unterschiedlichen Ebenen in einem Prozess über ein Jahrhundert durchgesetzt hat.
Zentrale Kategorie „des Marktes“
- wie eine agierende Person
- mit eigenen Regeln + Gesetzmäßigkeiten
- autonome, nicht steuerbare Abläufe
- als homogener Bereich
- Personifikation: wie ein Wesen
- Gegensatz zu >Nicht-Markt<: Es gibt im Prinzip nur zwei „Ordnungen“ (wie Sozialismus, Politik, Staat, …)
- Binärer Code, z.B. „Freiheit“ versus „Zwang“
- „Wollt Ihr mehr Markt oder wollt Ihr mehr Staat?“
Das schaulind soll die Stellung von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft darstellen, der größere Kreis dominiert den kleineren. Links die Konzeption im Keynesianismus, rechts für den Neoliberalismus bzw. Marktfundamentalismus. Hier gibt es keinen Begriff von Gesellschaft mehr: der Ordnungsbegriff (auch im deutschen Ordoliberalismus) hat die früheren Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft vermischt.
Der Ordnungsbegriff bedeutet ein entgrenztes Konzept:
- im Hinblick auf die Gesellschaft: Der Begriff Ordnung wird zur kategorialen Grundlage für die (nicht bewusste und nicht reflektierte) Ökonomisierung der Gesellschaft.
- im Hinblick auf die Umwelt/Mitwelt/Natur: Der Begriff Ordnung wird zur kategorialen Grundlage für die (nicht bewusste und nicht reflektierte) Zerstörung der Mitwelt.
Das Schaubild skizziert das neoliberale Konzept „der Globalisierung“ und seiner Governanne: dominium (der übergeordnete Markt, in den nationale Politiken nicht eingreifen sollen) und regnum (der Bereich der nationalen Politik, der auch demokratisch gestaltet werden kann).
Slobodian, Quinn: Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus. Suhrkamp Berlin 2019
Hier wird die Geschichte des Konzepts dieser Art voin Globalisierung erklärt. Das Konzept wurde schon in den 1940er-Jahren in der "Genfer Schule" des Neoliberalismus entwickelt und mehrer Jahrzehnte später partiell umgesetzt.
3. Neoliberale/marktfundamentale Sichtweisen auf die Umweltkrisen
- Kein Krisenbegriff in Bezug auf wirtschaftliche Phänomene
- Keine kritische Betrachtung des Wirtschaftssystems möglich, keine funktional-systemische Analyse, keine Machtanalyse, keine historische Analyse
Exkurs: Friedrich August (von) Hayek (1899-1992): Der Markt“ als Wissenssystem
- „Der (über-)wissende Markt“ und die nicht-wissenden (ignoranten) Menschen
- konstitutionelle Ignoranz“ des individuellen Wissens
- Einzelner kann nichtmehr als einen kleinen Teil der ganzen Gesellschaft wissen.
- Kritik der Rolle der Vernunft aus der Aufklärung, Vernunft nur noch als Prozess
- Regeln „des Marktes“ = „Instrument, um mit unserer konstitutionellen Ignoranz umgehen zu können.“
- Im „Denken“ über „den Markt“ reflektieren wir auf ein Wissen, von dem wir „wissen“, dass wir es nicht wissen
- Nichtwissen und Ignoranz als Tugend
- Reflexion über„den Markt“ = eine „verhängnisvolle Anmaßung der Vernunft“
- Denkverbot für alternative Ansichten, Eine Utopie zur Beendung jeder anderen Utopie
- Nachdenken über Strukturmängel des Systems ist sinnlos
- Politische Phantasie über die Zukunft des Wirtschaftssystems ist schädlich, PolitikerInnen brauchen keine Zielvorstellungen
- Unfähig, den eigenen Beitrag zu den „verlorenen vier Jahrzehnten“ zu erkennen
- Umdeutung von Umweltkrisen als Versagen „des Marktes“
- Fokus für Abhilfe auf den „Marktpreismechanismus“ –> CO2-Bepreisung, Verschmutzungsszertifkate, neue Märkte dazu, …
- Fokus auf Märkte und richtige Preise, nicht auf technische, physikalische oder biologische Zusammenhänge
- Fokus auf graduelle Übergänge, nicht auf Brüche, historische Diskontinuitäten, Phasen oder Kippeffekte
- Naiver technischer Optimismus: „Rettung“ durch neue Technologien in der Zukunft
4. Politisch (relative) Nichtreaktion als Folge kognitiver Defizite im Marktdenken
Das Marktdenken ist ungemein tief in unsere Gesellschaft eingesickert.
Zentral ist die Bedeutung von Lobbies und meinungsbildenden Medien auf politische Eliten
Zentral sind Machtfragen
Als abschließender Gedanke: Die Krise des gesellschaftlichen Bewusstseins in Bezug auf die Mitwelt als Krise der Repräsentation der Zukunft
- Menschen als simulierende Wesen. Im Alltag dauernde Zukunftssimulationen
- Wirtschaft als simulativer Prozess: Investitionsentscheidungen, Risikokapital für Startups
- Börsenpreise als Erwartungspreise: „to anticipate what average opinion expects the average opinion to be.“ (Keynes, Erwartungserwartungen)
Ökologisches Bewusstsein als spezifische Zukunftsprojektion
- Die notwendige Vorbedingung eines „Schocks“ durch einen realistischen Blick in deep history
Chakrabarty, Dipesh, The Climate of History in a Planetary Age, University of Chicago Press, Chicago and London 2021
Die These des Anthropozäns, Metapher: wir leben auf einem Schiff, das vom technischen Funktionieren abhängig ist.
Ein neuer Zeitbegriff von deep history erforderlich: “in our own awareness of ourselves, the now of human history has become entangled with the long now of geological and biological timescales, something that has never happened before in the history of humanity.”
“The geological time of the Anthropocene and the time of our everyday lives in the shadow of global capital are intertwined.”
- Ein “gelungener Schock” führt zu Handlungsmächtigkeit
- Wie kann ein „gelungener Schock“ vermittelt werden?
- Verhinderung eines ökologischen Bewusstseins durch andere Zukunftsbilder
- Fokus auf das „Überleben“: physisch, emotional, sozial
- Fokus auf künftigen Konsum
- Dominanz der prägenden sozialen Umgebungen und ihrer Zukunftsbilder, z.B. bei wirtschaftlichen und politischen Eliten. Diese verstehen die ökologischen Krisen kognitiv nicht. (Hayeks „konstitutionelle Ignoranz haben sie zur Gruppentugend zur – kurzfristigen – Bewahrung ihrer Privilegien erhoben.)
- Rechtspopulistische und rechtsradikale Ausblendung der Gefahren bis hin zum Leugnen, als Bewältigungsstrategie oder auch Erklärungsversuch (in neuen Verschwörungsbildern)
- Erkennen und Überwinden der gesellschaftlichen Paralyse in Bezug auf die drohenden Umweltkatastrophen.
Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift, VSA Hamburg 2013
„Kapitalistischer Realismus“ = „das weitverbreitete Gefühl, dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politische und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen.“
Umweltkatastrophe als Form des hier beschriebenen Realen: „ DieserUmgang mit der Umweltkatastrophe illustriert bestens die Fantasiestruktur, von der der kapitalistische Realismus abhängig ist: die Idee, dass Ressourcen unendlich sind und die Erde selbst nur eine Hülle ist, die das Kapital an einem bestimmten Zeitpunkt wie eine benutzte Haut einfach abstreifen kann“ (26)
„Unter den Bedingungen ontologischer Prekarität wird das Vergessen zu einer adaptiven Strategie“ (67). „Das Gespenst des »Big Government« spielt eine essenzielle und libidinöse Rolle für den kapitalistischen Realismus“ (74), weil wir genau wissen, dass die Regierung nicht die Zügel an der Hand hat (76). Das System wird als teilnahmslos, unpersönlich, ohne Zentrum, abstrakt und fragmentarisch erfahren“ (77) „Anstatt zu behaupten, dass jede und jeder, d.h. jeder für sich, für den Klimawandel verantwortlich ist, wäre es besser zu sagen, dass niemand dafür verantwortlich ist und dass genau darin das Problem besteht. Der Grund für die Ökokatastrophe liegt in einer unpersönlichen Struktur, die, selbst wenn sie fähig ist, alle möglichen Effekte zu verursachen, eben kein Subjekt ist, das Verantwortung übernehmen könnte.“ (78f.)
- Wichtigkeit eigener positiver Visionen, eines positiven Bildes des Menschen, eines positiven Bildes der Gesellschaft, eines positiven Bildes der Politik (Ziel einer Redemokratisierung in der Krise der Parteiendemokratie) und Einüben in transformative Praktiken und Lebensorientierungen
- Hoffnung auf eine neue „ökologische Klasse“
Latour, Bruno / Schultz, Nikolay: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum, Suhrkamp Berlin 2022
So wie einst die Arbeiterklasse den sozialen Fortschritt erkämpfte, bedarf es heute einer ökologischen Klasse, um den Klimawandel aufzuhalten. Wo Bewegungen wie Fridays For Future und lokale Organisationen oft getrennt agieren, plädieren die Soziologen für eine Politik, die den Schutz unserer Lebensgrundlagen ins Zentrum gemeinsamer Anstrengungen stellt. Die Geschichte der Menschen, hieß es bei Marx und Engels, sei die Geschichte von Klassenkämpfen. Kommt es nicht zur Entstehung einer ökologischen Klasse, so Latour und Schultz, wird die Menschheit keine Zukunft haben.
- Schulung eines neuen planetarischen Bewusstseins